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Obdachlos – aber nicht würdelos! Wie „Fratello Hamburg“ Menschen auf der Straße soziale Teilhabe ermöglicht

Wer auf der Straße lebt, hat vieles verloren. Eines aber darf nicht verloren gehen: die eigene Würde. Damit dies auch nicht vergessen wird, schafft das Projekt „Fratello Hamburg“ einen Ort zum Austausch für obdachlose und nicht obdachlose Menschen, die sich dort auf Augenhöhe begegnen.

Es ist kalt. Der heiße Atem bildet blasse Wolken vor den Gesichtern der Menschen, die am Morgen durch die Straßen gehen – auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Weg nach Hause nach einer langen Nacht. Die einen mit Thermobecher in der behandschuhten Hand, die anderen mit bis zur Nase hochgezogenen Schals und tiefsitzenden Mützen. Und irgendwo dazwischen: Ein Mensch, der in einen dünnen Schlafsack gewickelt auf einer alten Zeitung sitzt, einen knitterigen Pappbecher vor sich stehend. – Wie reagierst Du auf ihn?

„Es muss nicht immer der Euro im Becher sein“, sagt Johannes. Der 58-Jährige weiß, wovon er spricht: Ein Dreivierteljahr hat er selbst auf der Straße gelebt. In dieser Zeit hat er Hilfe in einer Hamburger Tagesstätte für obdachlose und bedürftige Menschen gefunden – und sich als freiwilliger Helfer für andere, die in der gleichen Situation waren, engagiert. „Einfach ein Lächeln“, wirft seine Freundin Yola ein, „von Leuten, die dich sehen. Die dir damit zeigen: Du bist nicht unsichtbar, du bist da – und ich sehe dich. Das ist wirklich viel.“

Es musst nicht immer der Euro im Becher sein.
Johannes, regelmäßiger Teilnehmer am Projekt „Fratello“

Die beiden sitzen in der Unterkirche im „Kleinen Michel“ in Hamburg. Eben hat in der Kirche eine Andacht stattgefunden, an der neben ihnen noch rund 40 weitere Menschen – mit und ohne Dach überm Kopf – teilgenommen haben. Es ist der erste Teil des Projekts „Fratello Hamburg“ des Caritasverbandes für das Erzbistum Hamburg und der Katholischen Akademie Hamburg, das hier einmal im Monat stattfindet. Es hat zum Ziel, Begegnungen und ein daraus einhergehendes gemeinschaftliches Handeln von Menschen aus unterschiedlichen, teils sehr gegensätzlichen gesellschaftlichen Milieus zu schaffen. Im zweiten Teil, der gerade stattfindet, wird gemeinsam gegessen – passend zu den winterlichen Temperaturen gibt es Grünkohl. Johannes allerdings verzichtet lachend: „Grünkohl mag ich nicht so gern.“ Das Essen ist aber auch nicht der Grund, weshalb er jeden Monat wieder hierherkommt. „Es ist das Gemeinschaftsgefühl“, sagt der 58-Jährige. „Wir tragen hier jeden Monat den Geist von ‚Fratello‘ weiter.“

Foto: Ein Mann und eine Frau sitzen am Tisch und unterhalten sich

Die Botschaft: Vom Obdachlosen bis zum Oberarzt – alle Menschen sind gleich

Der Begriff „Fratello“ hat für Johannes und Yola eine besondere Bedeutung – denn dass das Projekt diesen Namen trägt, kommt nicht von ungefähr: Im November 2016 nahm eine Hamburger Gruppe von 70 Menschen in prekären Lebenslagen an der internationalen Pilgerfahrt „Fratello“ zu Papst Franziskus nach Rom teil. Zwei der Reisenden waren Johannes und Yola. Kennengelernt haben sich die beiden allerdings schon früher: „Ich war obdachlos und bin im ‚Haus Bethlehem‘, einer Einrichtung für wohnungslose Frauen auf St. Pauli, untergekommen“, erzählt die 56-Jährige. „Johannes war damals bei der Tagesstätte ‚Alimaus‘ und hat morgens Lebensmittel bei uns vorbeigebracht.“

Info

Das Projekt „Fratello Hamburg“ ist ein Kooperationsprojekt des Caritasverbandes für das Erzbistum Hamburg und der Katholische Akademie Hamburg. Es bringt Menschen aus unterschiedlichen, teils sehr gegensätzlichen gesellschaftlichen Milieus zusammen, baut Vorurteile ab. Neben den monatlichen Treffen sollen 2020 weitere Ideen entwickelt werden, die obdachlosen Menschen Teilhabe ermöglichen – und so alle daran erinnern, dass keiner ihnen ihre Würde nehmen kann. Wir freuen uns, dass wir diese wichtige und wertschätzende Arbeit, die Beatrice Bossart und ihr Team leisten, mit rund 90.000 Euro fördern können.

Am Ende ihrer Pilgerreise passierte es dann: „Wir waren am Flughafen und schon mit der Passkontrolle durch“, erinnert sich Yola lächelnd. „Wir warteten auf die anderen und es lief Musik. Als ich Chopin hörte, habe ich Johannes geschnappt und mit ihm getanzt!“ Seit drei Jahren wohnen die beiden nun zusammen, in diesem Jahr wollen sie heiraten. Das gefundene Liebesglück ist aber nicht der einzige Grund, weshalb Yola Tränen in den Augen hat, wenn sie über die Reise nach Rom spricht. Die Geste des Papstes, „Menschen wie uns“, wie sie sagt, zu sich einzuladen, hat sie nachhaltig berührt. „Als er in den Saal kam, habe ich geweint. Ich hätte die ganze Welt umarmen können, ich habe mich so glücklich gefühlt. Dieses Gefühl kann ich nicht vergessen. Und jedes Mal, wenn ich hierherkomme, in dieses Projekt, spüre ich es wieder.“ Ihre Stimme überschlägt sich fast, während sie spricht – mit so viel Leidenschaft erzählt sie davon. „Das ist ‚Fratello‘! Wir sind zusammen, jeder hat seine Probleme, der eine ist Doktor, der andere obdachlos … Aber in diesem Moment, wenn wir hier zusammensitzen, hat das keine Bedeutung. Wir sind alle gleich. Und wir sind glücklich.“

Foto: Eine Frau sitzt am Tisch und spricht.

Begegnungen auf Augenhöhe

Beatrice Bossart, die das Projekt „Fratello Hamburg“ koordiniert, hat sich mit einem Teller Grünkohl dazugesetzt. Sie legt die Gabel ab, sagt: „Unser Ansatz ist nicht der, ein zusätzliches soziales Angebot für Menschen ohne Wohnung anzubieten, sondern einfach Teilhabe auf Augenhöhe zu schaffen. Das, was Papst Franziskus begonnen hat, weiter wachsen zu lassen.“ Neben der Andacht und dem geselligen Beisammensein danach bietet das Projekt noch einen dritten Programmpunkt: Einen inhaltlichen Teil, in dem Themen aus sozialen, politischen oder kulturellen Feldern auf unterschiedliche Weise – von Filmabenden über Podiumsdiskussionen bis hin zu Gruppenarbeiten – aufgegriffen werden. Ziel ist es, für alle Teilnehmenden einen Rahmen dafür zu schaffen, nicht Objekte eines karitativen Angebots zu sein, sondern als Subjekte des Geschehens die eigenen Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten zu entdecken und entfalten zu können.

Soziales Engagement, das sich ergänzt

Die Würde bedürftiger Menschen zu erhalten, ist auch das Ziel vieler weiterer sozialer Projekte, die Angebote wie „Fratello Hamburg“ ergänzen: In Tagesstätten wie „Alimaus“ erhalten Obdachlose u.a. ein Frühstück. Der von uns geförderte Duschbus von „GoBanyo“ ermöglicht Menschen, die auf der Straße leben, die Möglichkeit, sich regelmäßig zu waschen (sie auch unser Interview mit dem ehemals Obdachlosen Dominik Bloh: „Man hält sich selbst für Dreck“). Und der Verein „Hanseatic Help“ verteilt Kleidung, Schlafsäcke, Isomatten, Hygieneartikel und viele weitere gut erhaltene Sachspenden an Hilfebedürftige in und um Hamburg ­– und darüber hinaus. Mehr über das Engagement des Vereins und was Batman damit zu tun hat, erfahrt ihr in der neuesten Folge unseres Podcast „WaSozial“. Diese findet ihr hier, bei Spotify und Apple Podcasts.

Beatrice Bossart schaut sich in dem vollen Raum um: Die Gäste essen, unterhalten sich, lachen. „Hier sitzen Ärzte neben Menschen, die nicht lesen können – und es spielt überhaupt keine Rolle. Sie sitzen zusammen und tauschen sich aus.“ Damit will „Fratello Hamburg“ nicht nur die Teilhabe von Menschen in prekären Lebenssituationen fördern, sondern auch Vorurteile und Berührungsängste abbauen. Denn diese bestehen nicht nur einseitig: „Die Menschen auf der Straße haben genauso Vorurteile“, weiß Bossart.

„Hier begegnet man sich auf Augenhöhe“, sagt auch Johannes. Auf seiner Jacke ist ein St.-Pauli-Patch aufgenäht, seine Fan-Mütze ragt aus der Jackentasche heraus. Die langen, dunklen Haare sind zu einem Zopf gebunden. „Es ist so wichtig, dass man sich auf Augenhöhe begegnet“, betont er noch einmal. Er hat es relativ schnell aus der Obdachlosigkeit geschafft – dank der Hilfe der Engagierten, die ihn gefördert und gefordert haben. Nun ist er selbst fest bei einer Tagesstätte für obdachlose Menschen tätig, steht fast jeden Morgen um 3:15 Uhr auf, um alles fürs Frühstück vorzubereiten – Brötchen holen, Gemüse schneiden, Kaffee kochen, Tische eindecken. Das braucht Vorlaufzeit. Bei der Zubereitung legt er Wert auf kleine Details. „Das Auge isst schließlich mit“, sagt der 58-Jährige. „Ich behandle unsere Gäste so, wie ich gern behandelt worden wäre – und wie ich zum Teil auch behandelt worden bin. Einfach mit Respekt.“ Er macht eine kurze Pause, nestelt an einer Mandarine, die vor ihm auf dem Tisch liegt, herum. Dann sagt er: „Man kann alles verlieren, aber nicht seine Würde.“

Foto: Ein Mann sitzt an einem Tisch und hält eine Mandarine in der Hand.

Yola legt ihre Hand auf seine. „Hast Du bemerkt, was er gerade gesagt hat?“, fragt sie aufgeregt. „Er hat nicht Obdachlose gesagt oder arme Leute. Diese Menschen, die in Tagesstätten, in andere Einrichtungen oder hier her kommen, das sind Gäste.“ Sie holt kurz Luft. „Jeder braucht Respekt. Und den bekommen Obdachlose auf der Straße einfach manchmal nicht. Dabei ist das eigentlich eine Kleinigkeit: ein Lächeln, ein ‚Hallo‘, ein freundlicher Blick – mehr braucht es gar nicht.“

Foto: Ein Mann und eine Frau sitzen am Tisch, die Frau hat den Arm um den Mann gelegt.

Es ist kalt, Mützen und Schals sitzen tief im Gesicht – und da ist er wieder, der Mensch, der in seinen Schlafsack gewickelt auf dem Bürgersteig sitzt, mit seinem knitterigen Pappbecher vor sich stehend. – Wie reagierst Du auf ihn?

Mutmacher

Autorin

Katharina Hofmann

Fotograf

Jan Ehlers

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