Zu zweit gegen die Einsamkeit
Altersarmut bedroht Millionen Menschen in Deutschland. Allein in Hamburg sind mehr als 53.000 der über 65-Jährigen armutsgefährdet, über 25.000 Senioren auf Grundsicherung angewiesen. Tendenz steigend. Wer kaum Geld zum Leben hat, verliert schnell den Anschluss, zieht sich zurück und vereinsamt. Das Projekt Kulturisten Hoch2 möchte dies verhindern und schafft einkommensschwachen Senioren in Hamburg die Möglichkeit kultureller und sozialer Teilhabe.
Ingrid Rieper hat sich schick gemacht. Die hübsche, weiße Bluse angezogen und feine Schuhe. Sogar etwas Lippenstift hat sie aufgelegt. Denn der heutige Tag ist etwas Besonderes: Heute besucht die Rentnerin endlich mal wieder das Theater – zusammen mit Abiturientin Julia. „Ach, ist das schön, dass das heute klappt“, sagt Frau Rieper, als Julia sie zu Hause abholt. Die 76-Jährige schiebt ihren Rollator zur Seite und zieht Julia fest an sich. Es ist das zweite Mal, dass die beiden gemeinsam zu einer Kulturveranstaltung gehen. Für Frau Rieper keine Selbstverständlichkeit.

„Ich bin immer gern ins Theater gegangen, hatte sogar ein Abo im Ohnsorg-Theater“, erzählt sie auf dem Weg zur S-Bahn. „Doch mit kleiner Rente ist das schwierig. Mir hat das sehr gefehlt.“ Kein Wunder, dass Frau Rieper nach einem Vortrag von Kulturisten Hoch2 in ihrer Wohnanlage als allererste eine Anmeldung abgegeben hat.
Ich tausche mich gern mit älteren Menschen aus. Es ist spannend, von ihrem Leben zu erfahren, ihre Geschichte zu hören.
Das Generationenprojekt, das in Kooperation mit sechs Hamburger Schulen und dem Verein KulturLeben Hamburg e.V. entstanden ist, setzt sich für gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe älterer Menschen mit sehr kleinen Renten ein. Diese erhalten zwei kostenlose Eintrittskarten für eine Kulturveranstaltung, die sie in Begleitung einer Schülerin oder eines Schülers ab 16 Jahren aus ihrem Stadtteil besuchen. Das gemeinsame Erleben bringt beiden Spaß, fördert den Zusammenhalt im Viertel, das gegenseitige Verständnis und den Austausch der Generationen – und wirkt gegen Isolation.
Info
- Kulturisten Hoch2 startete im September 2017 in das zweite Jahr. 128 Schüler aus sechs Schulen sind derzeit aktiv – bis heute besuchten insgesamt 165 Tandems kulturelle Veranstaltungen.
- Beim Deutschen Nachbarschaftspreis, den die nebenan.de Stiftung 2017 erstmals verlieh, wurde das Generationenprojekt als Sieger des Bundeslandes Hamburg ausgezeichnet. Es war zudem beim Deutschen Engagementpreis nominiert.
- Auch der Deutschen Fernsehlotterie ist es ein großes Anliegen, Menschen vor der Isolation zu bewahren, den Austausch der Generationen und ein solidarisches Miteinander im Stadtteil zu unterstützen. Herzlichen Dank den vielen Engagierten von Kulturisten Hoch2 für ihren Einsatz! Wir freuen uns außerdem sehr, dass das Projekt nach Beratung durch die Stiftung Deutsches Hilfswerk 2018 eine Förderung erhalten konnte.
Die Geschichten hinter den Menschen
Julia hat bei einem Vortrag in ihrer Schule von den Kulturisten Hoch2 erfahren – sie ist eine von 128 aktiven Schülerinnen und Schülern im Projekt. „Das ist mal eine andere, sehr schöne Art, sich zu engagieren“, sagt sie. „Ich tausche mich gern mit älteren Menschen aus. Es ist spannend, von ihrem Leben zu erfahren, ihre Geschichte zu hören.“

Geschichten, die hat Frau Rieper viele zu erzählen. Und das macht sie auch, während sie im moderaten Schritt mit ihrem Rollator die Straße entlang läuft. „Nach der Schule habe ich mein Geld mit Putzen verdient – 40 Mark gab es dafür. Aber Arbeiten konnte ich nicht immer. Mein Sohn hatte Gelenkrheuma und saß mit elf Jahren im Rollstuhl. Sein Stiefvater kam damit nicht klar, hätte ihn am liebsten einfach in einer Ecke geparkt und seine Ruhe gehabt“, erinnert sie sich. Julia lauscht Frau Rieper aufmerksam. „Als Mutter packt man dann sein Kind und geht“, erzählt diese weiter. „Es hat mich viel Kraft gekostet. Aber ich habe ihn wieder aus dem Rollstuhl raus gekriegt.“
Am Anfang waren viele der Älteren skeptisch. Sie fragten: ‚Will so ein junger Mensch das überhaupt machen?’
„Hinter vielen Menschen, die heute nicht so viel Geld haben, stecken solche Schicksale“, weiß Christine Worch, Projektinitiatorin von Kulturisten Hoch2. „Besonders Frauen sind von Altersarmut betroffen, weil sie zum Beispiel als Mütter ihr Berufsleben unterbrochen haben.“ Viele ziehen sich zurück, drohen zu vereinsamen. Auch Frau Rieper: „Mein Sohn lebt inzwischen in Thailand, zu seinen Mädchen – meinen Enkeltöchtern – habe ich seit seiner Scheidung leider keinen Kontakt mehr.“ Im November 2013 starb zudem ihr Lebensgefährte, den sie dreizehn Jahre lang pflegte, nach langer Alzheimer-Erkrankung. „Für mich ist das immer noch sehr frisch“, sagt die 76-Jährige.

Am S-Bahnhof angekommen zieht Julia für Frau Rieper eine Fahrkarte – das Geld dafür hat sie vom Projekt bekommen. 10 Euro (plus ggf. Fahrtgeld) erhält jeder Schüler, um damit seine Begleitung auf ein Getränk einzuladen und die Garderobe zu zahlen. Mit dem richtigen Ticket in der Tasche gehen die beiden zum Fahrstuhl – doch der funktioniert nicht. „Was machen wir nun?“, fragt Julia unsicher. „Na“, sagt Frau Rieper mit norddeutscher Gelassenheit, „dann nehmen wir die Treppe. Bleibt uns ja nix anderes übrig!“ Während Julia den Rollator trägt, meistert die Seniorin eine Stufe nach der anderen. Zwei Treppen müssen die beiden bewältigen, dann ist es geschafft.



Für ihren Einsatz bei den Kulturisten Hoch2 wird Julia später ein Ehrenamtszertifikat erhalten. In der Bahn spricht sie mit Frau Rieper über das Thema Engagement. „Es ist schön, sich für andere einzusetzen“, sagt diese. „Ich habe selbst sieben Jahre in der Kirchenküche gearbeitet und Essen an Obdachlose ausgegeben.“ Heute geht sie selbst regelmäßig zur Tafel.



Keiner wird ausgegrenzt
Seit Start des Projekts im September 2016 waren bis heute 165 Tandems bei kulturellen Veranstaltungen. „Am Anfang waren viele der Älteren skeptisch“, erinnert sich Christine Worch. „Sie fragten: ‚Will so ein junger Mensch das überhaupt machen?‘“ Die Antwort lautet: Ja. „Die Jugendlichen sind Feuer und Flamme“, sagt die engagierte Projektinitiatorin. „Wir fragen nach jeder Veranstaltung bei beiden Seiten nach wie der Abend war – ich habe nicht ein Mal etwas Negatives gehört!“

Dass die Tandems so gut funktionieren, liegt auch an den zusätzlichen Angeboten, welche die Schüler auf ihr Ehrenamt vorbereiten: In Workshops erfahren sie, wie es sich anfühlt, alt zu sein – mit unterschiedlichen Hilfsmitteln, welche eingeschränkte Bewegungsfähigkeit, Schwerhörigkeit oder Augenkrankheiten simulieren. Die Schüler lernen außerdem, wie man sich mit Rollstuhl und Rollator fortbewegt und wie man dabei Hilfestellungen geben kann, wenn diese nötig sind. „Ich konnte mir nie vorstellen, wie das ist, alt zu sein“, sagt Julia. „Aber jetzt habe ich ein Gefühl dafür und verstehe sehr viel besser, wie schwierig manchmal auch die einfachsten Dinge sein können.“

Mit wie viel Empathie und Einfühlungsvermögen die Jugendlichen auf die Senioren eingehen, zeigte sich kürzlich in Rahlstedt. „Da haben uns die Schüler rückgemeldet: ‚Mit Frau XY stimmt etwas nicht. Können Sie sich mal kümmern?‘“, erzählt Christine Worch. „Und tatsächlich stellte sich heraus, dass sie eine beginnende Demenz hat. Da wir aber ein Projekt sind, das niemanden ausgrenzt, haben wir uns mit der Deutschen Alzheimergesellschaft zusammengetan und werden in Zukunft auch Workshops über das Thema Demenz anbieten.“
Ich hoffe, dass Julia vielleicht so etwas wie meine Ersatz-Enkelin werden kann.
Ein Tandem mit Zukunft
Bevor sich Julia und Frau Rieper heute „Der zerbrochene Krug“ im Deutschen Schauspielhaus ansehen, nehmen die beiden im Café ihr Getränk ein – denn eine Pause gibt es bei dem Stück nicht. Dabei lassen sie noch einmal ihr erstes Treffen vor einigen Wochen Revue passieren. „Julia kam direkt nach der Schule bei mir vorbei“, erinnert sich Frau Rieper. „So konnten wir uns erst mal kennenlernen, damit wir nicht so ganz fremd ins Theater gehen. Sie hatte kein Mittag gehabt, und ich auch nicht. Also habe ich uns Apfelpfannkuchen gemacht. Die mochten meine Enkelinnen auch immer gerne.“ Sie schweigt kurz. Dann fügt sie an: „Ich hoffe, dass Julia vielleicht so etwas wie meine Ersatz-Enkelin werden kann…“ Sie schaut Julia an. Diese lächelt. „Ja, das fände ich auch sehr schön.“
2 Kommentare
Im Haushalt mithelfen oder einkaufen gehen.
Ey, Jo Wenn ihr Leute braucht, die euch helfen(und sei es nur mit euren Leuten chillen) schreibt mich an. Kenn selber schwierige Lebensphasen aber erkenne trotzdem allem etwas positivem ab. Arbeite auch gerne ehrenamtlich. Mfg, Noah
Ich sitze im rollstuhl. Wir wohnen in einer einliegeŕwohnung mit 15 treppen nach draußen. Ich bin immer nur in meiner wohnung
ok wo wohnst du denn?
Wie kann Teilhabe für ältere Menschen mit wenig Geld noch gestaltet werden? Diskutiere mit!