Videospiele gegen das Vergessen
Annegret Jenkel trifft sich regelmäßig mit ihren Gamer-Freundinnen und -Freunden, um gemeinsam an ihrer Lieblingsspielekonsole zu daddeln: der memoreBox. Das Besondere: Frau Jenkel ist 74 Jahre alt – und lebt in der „Kleinen Stadt der Senioren“ in Poppenbüttel.
Rausgehen? Jetzt?! Ja, die Sonne scheint. Und ja, die Luft ist nicht so drückend, wie sie an den heißesten Tagen im Sommer war, sondern eigentlich ganz frisch – und die Blumenpracht im Garten duftet herrlich süß! Trotzdem wollen Annegret Jenkel, Jens Hansen und sieben weitere Senior*innen heute erst mal drinnen bleiben, denn sie sind zum Zocken verabredet. Von dieser einen Stunde in der Woche, die sie gemeinsam vor dem Bildschirm verbringen, kann selbst der schönste Tag sie nicht abhalten. Frau Jenkel ist eine erfahrene Spielerin: „Ich habe vor ungefähr eineinhalb Jahren damit angefangen“, erzählt sie stolz. „Da war die Box noch in der Testphase und hatte viele Kinderkrankheiten…“

„Die Box“ – das ist die memoreBox, eine Spielekonsole, die vom Start-up-Unternehmen RetroBrain entwickelt wurde. „Seit 2014 arbeiten wir an therapeutisch-präventiv wirksamen Videospielen für gesunde und von Demenz, Parkinson oder Schlaganfall betroffene Seniorinnen und Senioren“, erzählt Gründer Manouchehr Shamsrizi. „Im Vordergrund der Spielgestaltung steht für uns die Prävention, kombiniert mit Spaß.“ Seit 2018 sind nun zehn„fertige“ Geräte in der „Kleinen Stadt der Senioren“, wie Hamburgs älteste Stiftung, das Hospital zum Heiligen Geist, auch genannt wird, für die Bewohner*innen verfügbar – und werden rege genutzt.

„Wer möchte heute anfangen?“, fragt Ilona Lamm gut gelaunt. Sie unterstützt die Spieler*innen, sollte mal etwas nicht richtig funktionieren, und koordiniert die Spiele-Stunde. Annegret Jenkel springt auf. „Ich!“, ruft sie und stellt sich vor den großen Bildschirm, aus dem ihr bereits Paul, der Avatar, der durch das Spiel führt, entgegen blickt. Zunächst nimmt Paul über eine Kamera an der Box ein Foto von Frau Jenkel auf, das Spielerbild, dann bittet er sie, den Arm zu bewegen, mit dem sie spielen möchte – ein Sensor wird ihre Bewegungen dann im Spiel auf den Charakter übertragen. Die Seniorin hebt den rechten Arm, fast schon ungeduldig – ganz Profi-like möchte sie endlich loslegen!
Es ist unser Ziel, die Menschen auch in ihrem Zuhause zu erreichen. Damit wir möglichst früh in den Bereichen der kognitiven Ebene, der Stand- und Gangsicherheit und der sozialen Inklusion präventiv wirken können.
Nachdem alles Wichtige für Paul geklärt ist, nimmt er die Rentnerin mit auf die Kegelbahn. Die Musik startet: „Jeder kleine Spießer macht das Leben mir zur Qual, denn er spricht nur immer von Moral…“ klingt der Hit „Kann denn Liebe Sünde sein?“ durch den kleinen Raum. Frau Jenkel geht leicht in die Knie, fixiert die Kegel auf dem Bildschirm, holt leicht mit dem rechten Arm nach hinten aus und schiebt ihn dann mit einer flüssigen Bewegung nach vorne. Die Kugel rollt – und reißt alle Kegel um, bis auf einen. Anerkennender Beifall ertönt, der noch euphorischer wird, als die 74-Jährige im zweiten Versuch auch den letzten Kegel trifft. Hier kämpft keiner für sich allein, sondern alle fiebern mit!


Nun hat auch Herr Hansen der Ehrgeiz gepackt: Er stellt sich auf, führt die Bewegung aus und räumt gleich beim ersten Versuch alle Kegel ab. Auch beim zweiten Wurf bleibt er höchst konzentriert, holt aus – „Sie dürfen dabei auch lächeln“, ruft ihm Ilona Lamm fröhlich zu – er stockt. Die Entourage auf den Stühlen hinter ihm kichert, Herr Jensen schaut Frau Lamm überrascht an, dann beginnt er zu lachen. „Sie bringen mich ganz aus dem Konzept!“, sagt er und schüttelt den Kopf.



Spielerische Prävention – nicht nur für Menschen mit Demenz
Am Rande des Geschehens sitzt RetroBrain-Mitbegründer Manouchehr Shamsrizi mit dem Vorstandsvorsitzendem der Einrichtung, Dr. Hartmut Clausen, an einem Tisch. Sie schauen den Senior*innen zu und erinnern sich, wie Hamburgs älteste Stiftung mit Hamburgs (zu diesem Zeitpunkt) neuestem Start-up zusammenkam: „Herr Shamsrizi sprach mich bei einer Veranstaltung an und hat mir seine Idee vorgestellt“, so Dr. Clausen. „Und die war, Videospiele für ältere Menschen zu entwickeln, die auch einen therapeutischen Hintergrund haben. Das fand ich sehr interessant.“ „Wissen Sie noch, als Sie das erste Mal bei uns waren?“, fragt Shamsrizi. Dr. Clausen fängt an zu lachen: „Klar, ich dachte: Was ist das denn für eine Gruppe? Sie mussten erstmal die Pizzakartons vom Sofa räumen, damit ich mich hinsetzen konnte…“ Doch was er dort, in diesen kleinen Räumlichkeiten am Rande des Hamburger Flughafens zu sehen bekam, überzeugte Dr. Clausen. „Da ich in meinem Job zuvor auch viel mit IT-Projekten zu tun hatte, konnte ich schnell das Potenzial erkennen, das in dieser Idee steckte. So sind wir Praxispartner geworden, haben sozusagen die Spieler gestellt, die den Prototypen getestet und immer wieder Feedback zurückgespielt haben.“

Inzwischen ist die memoreBox bei der Marktreife angelangt, jedoch noch nicht für den Privatnutzer zugänglich. „Wir sind zwar aus der Start-up-Phase raus“, sagt Shamsrizi, „doch noch ist das Team zu klein, um die Anfragen tausender Privatanwender abfangen zu können.“ Derzeit sucht das Unternehmen nach einem großen Partner, um dies abzudecken. „Denn das ist letztendlich unser Ziel: Die Menschen auch in ihrem Zuhause zu erreichen, damit wir möglichst früh in den Bereichen der kognitiven Ebene, der Stand- und Gangsicherheit und der sozialen Inklusion präventiv wirken können.“

Auf die Idee für ein Computerspiel mit dieser speziellen therapeutischen Wirkung kam Shamsrizi, weil er sich damals an der Humbolt-Universität zu Berlin wissenschaftlich mit den Folgen der alternden Gesellschaft und zeitgleich als Mitbegründer der Forschungsgruppe gamelab.berlin mit Videospielen beschäftigte. Gemeinsam mit seinen Mitgründern lud er auf der Webseite der Deutschen Alzheimergesellschaft ein PDF mit dem Titel „Die Nicht-medikamentöse Behandlung von Demenz“ herunter und verglich diese Liste mit der Frage ‚Mit welchen Spielmechaniken lassen sich genau diese Ansatzpunkte spaßbasiert anbieten?“. „Wir sahen zum Beispiel: Wenn jemand dementiell erkrankt ist, hat er ein höheres Sturzrisiko. Das ist fatal, denn 30 Prozent der Menschen, die in stationären Einrichtungen stürzen, entwickeln Bettlägerigkeit und Altersdepression. Doch bestimmte Übungen, das ist belegt, sind geeignet, um als Sturzprävention zu wirken. Also war der nächste Gedanke: Wir brauchen ein Spiel, bei dem man durch Gewichtsverlagerung den Gleichgewichtssinn trainiert.“ Diese Anfangsidee entwickelte sich im Laufe der Programmier-, Praxistest- und Studienzeit (s. Infokasten) weiter. „Wir wurden dabei von Partnern aus Wissenschaft und Praxis darauf aufmerksam gemacht, dass einige Elemente auch für Parkinsonpatienten oder bei der Schlaganfall-Rehabilitation funktionieren“, so Shamsrizi.

Aus diesem Grund spielen heute nicht nur Menschen mit Demenz oder anderen Erkrankungen, sondern auch Senior*innen, die noch topfit sind, mit der memoreBox – alle gemeinsam. Wie das funktioniert? Mit einem Kniff, der das Computerspiel von jedem anderen Kulturmedium, das wir kennen, unterscheidet: Es passt sich an. „Ein Film, oder auch ein Stück Musik, ist in der Rezeption erst mal für jeden gleich“, erklärt der Social-Entrepreneur. „Der Unterschied entsteht erst dadurch, dass jeder etwas anderes damit assoziiert. Ein Computerspiel jedoch kann sich auf jeden individuell einstellen.“ Das bedeutet im Falle des Kegelspiels: Sind die ersten beiden Würfe vielleicht nicht so gut, schraubt das Spiel die Schwierigkeit herunter, sodass jeder Spieler – ob mit Demenz oder ohne, im Rollstuhl oder auf beiden Beinen – auch Erfolgserlebnisse feiern kann. „Das Erfolgserlebnis ist bei solchen Spielen entscheidender, als wir zuvor angenommen haben“, erklärt Shamsrizi. „Dazu kommt: Das Aufeinanderfolgen von ‚Überforderung‘ – das Spiel ist zu schwer – und ‚Erfolgserlebnis‘ – das Spiel hat sich angepasst – führt zu einer wesentlich höheren Dopamin-Ausschüttung, als andere, passive Kulturmedien – ein Phänomen, zu dem aktuell am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf geforscht wird.“
Musikalische Unterstützung durch einen sozial engagierten Rockmusiker
„Kann das wirklich Sünde sein, wenn man immerzu an einen nur denkt…“, dudelt es im Hintergrund zum wiederholten Male fröhlich aus den Lautsprechern der memoreBox. „Ja, da haben uns die Seniorinnen und Senioren schon Feedback zu gegeben“, gesteht Shamzrisi. „Wir haben bisher nur vier Songs – einen für jedes Spiel auf der Box. Die wiederholen sich natürlich ständig.“ Da die Qualität der alten Songs auf Dauer zu schlecht war, wurden sie alle neu eingesungen, von Rainer Schumann, dem Schlagzeuger der Rockband „Fury in the Slaughterhouse“. „Er ist ehrenamtlich in Altenheimen aktiv“, erzählt Shamsrizi. „Unser gemeinsamer Freund, der Gründer des Wacken Open Air Holger Hübner, hat uns einander vorgestellt. Rainer hatte gleich Lust uns zu unterstützen.“ Bald sollen neue Songs aufgenommen werden, denn immer wieder den gleichen in Dauerschleife zu hören, das nervt inzwischen selbst die größten Zarah-Leander-Fans.

Auch deshalb wird jetzt das Spiel gewechselt: Die Runde möchte Motorrad fahren. Das Motorrad wird durch Verlagerung des Körpers über die Autobahn gelenkt, die Fahrt wird, im Gegensatz zum Kegeln, mit der Zeit schwieriger. Es kommen Autos entgegen, dann wird es aufregend: Geschwindigkeitsstreifen auf der Fahrbahn geben Extra-Speed, wenn man sie berührt. Die Zuschauer auf den Stühlen ziehen die Luft ein und lehnen sich zurück – als würden sie tatsächlich in einem Fahrzeug sitzen, das plötzlich schneller wird. Und dann werden im Spiel auch noch Fragen gestellt, die beantwortet werden, indem der Spieler die Ausfahrt mit der richtigen Antwort nimmt.

Anne Hinrichs ist heute zum ersten Mal dabei, traut sich trotzdem schon an das anspruchsvolle Spiel. Da sie nicht mehr so lange stehen kann, spielt sie im Sitzen – auch das ist möglich. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich trotzdem mitspielen kann. Es macht richtig Spaß“, sagt die 87-Jährige. „Früher, vor 70 Jahren, da bin ich immer als Beifahrer hinten auf dem Motorrad mitgefahren… Das habe ich offenbar nicht verlernt.“ Sie lacht, die Erinnerung an damals und die Bewegung machen ihr Freude. „Ich komme auf jeden Fall jetzt öfter hier her“, sagt sie. Die Senioren-Gamer-Gruppe ist um ein Mitglied reicher.
Info
- Hinter dem Start-up RetroBrain und der memoreBox stehen ein interdisziplinäres Team aus jungen Gründern, die insbesondere aus den Fachbereichen Medizin und Gamedesign stammen. Manouchehr Shamsrizi ist Initiator von RetroBrain und Co-Founder des gamelab-berlin.
- In dem Modellvorhaben, das RetroBrain in Kooperation mit der Barmer GEK und der HumboldtUniversität Berlin durchführt, werden die Auswirkungen regelmäßigen Spielens mit der memoreBox auf Sturzwahrscheinlichkeit, Kognition und Lebensqualität untersucht.
- Das Hospital zum Heiligen Geist ist mit fast 800 Jahren die älteste Stiftung Hamburgs. Besonderen Wert wird hier darauf gelegt, dass Senioren nicht nur Raum zum Wohnen geboten wird, sondern zum Leben – mit der ganzen Vielfalt, die eine Stadt ausmacht: Es gibt Geschäfte, Ärzte, Kirche, Festsaal, Internet-Café, Bibliothek und vieles mehr, eingebettet in eine grüne Parklandschaft.
- Die Deutsche Fernsehlotterie freut sich über diese innovative Idee, die älteren Menschen nicht nur die Prävention erleichtert, sondern auch Spaß bringt. Deshalb förderten wir den Ausbau der memoreBox in der „Kleinen Stadt der Senioren“ mit 100.000 Euro.
4 Kommentare
Tolle Idee - meine Mutter hat mit 78 Demenz - spielt aber immer noch auf dem Tablet Computerspiele. In einer Gruppe ist das für Sie bestimmt noch besser und bezüglich der Beweglichkeit finde ich die gezeigten Spiele fantastisch.
Ich spiele jetzt auf der WII.würde mich für diese , speziell für Ältere , Konsole , Interessieren.
Hallo Eva, hier findest Du Informationen über die MemoreBox und die Möglichkeit, mit der Herstellerfirma RetroBrain Kontakt aufzunehmen: https://memore.de/home/memorebox/ Viele Grüße, Dein Team der Fernsehlotterie
Ja. ich würde Videospiele spielen. Ich lebe in Berlin.
Würde gerne mitmachen, wenn die technischen und finanziellen Anforderungen nicht zu groß sind!
Ja ich würde im alter auch Videospiele spielen
Was hältst Du von der Idee? Würdest Du im Alter auch Videospiele spielen? Diskutiere mit!