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Sucht im Alter

Wenn Senioren süchtig sind, bleibt das oft im Verborgenen. Zu groß ist die Scham sich zu seinem Problem zu bekennen. Isabelle Forstner, Suchtberaterin bei der Diakonie, hilft alten Menschen, wieder ohne Suchtmittel zu leben.

Mit hochgezogenen Schultern sitzt Evelyn Hartmann* in ihrem Stuhl. Eigentlich ist heute nicht ihr Tag – sie hat Kopfschmerzen, ihr Nacken schmerzt, es ist kalt. Die 52-Jährige ist gegen ihre migräneartigen Kopfschmerzen wehrlos, starke Medikamente sind für sie tabu. Denn Evelyn Hartmann ist medikamentenabhängig. Jede Woche trifft sie sich mit der „Gesprächsgruppe für ältere suchtkranke Menschen“ – einem kostenlosen Angebot des Kreisdiakonieverbands Ostalbkreis in Aalen. Die Teilnehmer der Gesprächsgruppe möchten nicht erkannt werden, deshalb sind die Namen in diesem Artikel geändert und auf den Fotos nur die Leiterin der Gruppe, Isabelle Forstner und ihre Kollegin Doris Pahr zusehen.

Heute eröffnet Forstner die Gesprächsstunde mit einer fiktiven Geschichte über Kindheits-Erinnerungen an eine Tante Else. Die Runde hört schweigend zu. „Haben Sie auch so eine Tante Else, mit der Sie schöne Erinnerungen teilen?“, fragt Forstner. Es soll nicht nur um die Süchte gehen, sondern auch um alltägliche und schöne Dinge des Lebens. „Oft haben die alten Menschen niemanden mehr, mit dem sie reden können. Das ist also auch eine Art Prävention, damit sie nicht wieder zu Suchtmitteln greifen”, erklärt Forstner.

Gruppenleiterin Isabelle Forstner sitzt am Tisch in dem Raum, in dem die Gesprächsgruppe sich wöchentlich trifft.

Schmerzpatienten mit Suchtproblemen

Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) konsumieren zwischen 1,7 und 2,8 Millionen über 60-Jährige so viele psychoaktive Medikamente, dass es als problematisch gilt. Das sind zwischen acht und 13 Prozent, Tendenz steigend. Zu den Suchtmitteln zählen Schlaf- und Beruhigungsmittel sowie Schmerzmittel. Benzodiazepine, umgangssprachlich Benzos genannt, gehören zu den am häufigsten verschriebenen Psychopharmaka. Diese sollen bei Schlafstörungen, Angstzuständen und Rückenschmerzen helfen. In Deutschland nehmen laut DHS 10 bis 17 Prozent der Bevölkerung im Verlauf eines Jahres irgendwann einmal ein Benzodiazepinpräparat ein.

Sie stellen niemanden an den Pranger.
Evelyn Hartmann, Teilnehmerin der Gesprächsgruppe für ältere suchtkranke Menschen

Auch Evelyn Hartmann war wegen Schmerzen in Behandlung. Von ihrem Arzt bekam sie Benzos, Opiate und andere starke Medikamente verschrieben. Ein gefährlicher Medikamenten-Cocktail, der sie schließlich abhängig machte. „Durch einen Zufall habe ich herausgefunden, was das eigentlich alles ist. Davor war es einfach pure Unwissenheit“, sagt Hartmann. Das Gefährliche an Medikamenten ist die sogenannte stille Sucht, die sich durch die stetige Erhöhung der Dosis einschleicht. Nach der Einsicht folgte für Hartmann das sogenannte Ausschleichen, das langsame Absetzen der Medikamente und der Entzug.

Hartmann ist mit 52 Jahren die Jüngste in der Runde. Mit ihrer platinblonden Kurzhaarfrisur, dem roten Lippenstift und den modischen Klamotten fällt sie auf. Obwohl sie gerade Kopfschmerzen hat, geht Hartmann gerne in die Gesprächsgruppe von Isabelle Forstner und Doris Pahr. „Sie stellen niemanden an den Pranger.” Selbst wenn einer mal einen Rückfall habe, könne man in der Gruppe darüber reden. Und besonders schön sei, dass es eben nicht immer um die Sucht gehe. Heute etwa spricht die Gruppe fast eine Stunde lang über ihre Erinnerungen an jemanden wie die fiktive Tante Else, als hätten sich einfach Freunde getroffen.

Doris Pahr, Suchtberaterin bei der Diakonie, im Gruppenraum.
Forstner und Pahr im Gespräch.
Pahr erzählt mit gesenktem Blick die Geschichte einer Teilnehmerin.

Die Gefahr von Alkohol im hohen Alter

Außerhalb dieser Runde ist Sucht im Alter ein Tabuthema. „Meine Klienten stammen aus einer ganz anderen Generation. Früher hat man nicht offen über diese Themen geredet, sondern sie unter den Teppich gekehrt“, sagt Forstner. Die 27-jährige Sozialpädagogin kennt die Gründe, die alte Menschen in die Sucht treiben: Mit dem Alter brechen oft Beziehungen weg – sei es durch den Tod des Partners oder weil die sozialen Kontakte weniger werden. „Mit der Rente müssen sich die Leute quasi neu erfinden. Ein neuer Tagesablauf, eine Aufgabe – das fällt vielen sehr schwer.“ Nicht nur Medikamente sind als Suchtmittel ein Problem, sondern auch Alkohol. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts konsumieren 27 Prozent der Männer und 19 Prozent der Frauen ab 65 Jahren Alkohol in bedenklichen Mengen.

Forstner und Pahr zeigen die Broschüre zur Gesprächsgruppe.

Info

  • Die Deutsche Fernsehlotterie hat den Aufbau der Suchtberatungsstelle mit 53.000 Euro unterstützt. Das Geld ist in die Finanzierung für benötigtes Fachpersonal geflossen.
  • Beantrage auch Du Fördergelder für Dein Projekt. Infos in unserer Checkliste.

Auch bei Henriette Bader* war es der Verlust eines Menschen, der sie in die Sucht trieb. Nach dem Tod ihres Mannes, griff Bader zum Alkohol und rutschte in die Sucht ab. Die 59-Jährige ist gerade aus dem Ägypten-Urlaub zurück. Sie sieht erholt aus, braungebrannt, trägt eine Bluse mit Blumenmuster. Ein Zustand, der nicht immer so war. Irgendwann habe sie nicht einmal mehr den Haushalt geschafft. „Der Wendepunkt kam, als meine Tochter bei einem Besuch realisierte, was mit mir los war“, erzählt Bader. Es folgten Arztbesuche und eine Entgiftung. Heute ist sie trocken. „Ich will meine Tochter nicht mehr enttäuschen“, sagt sie mit Nachdruck. Bader hatte Glück, dass ihre Tochter ihr Problem erkannt hat. Denn oft bleibt die Sucht im Verborgenen. Die Symptome eines alkoholisierten Menschen, wie Schwanken, Stürzen oder Verwirrtheit, lassen sich bei alten Menschen nicht eindeutig als solche identifizieren. Das kann mitunter schlimme Konsequenzen haben, denn mit hohem Alter nimmt die Alkoholverträglichkeit ab. Der Stoffwechsel wird langsamer, der Wasserhaushalt verändert sich. Leber und Nieren können Medikamente und Alkohol schlechter verarbeiten.

Forstner und Pahr im Gespräch.
Pahr im Profil.
Es ist nie zu spät für eine bessere Lebensqualität.
Isabelle Forstner, Suchtberaterin der Diakonie

Es gibt Angehörige, die Isabelle Forstner fragen, ob es sich überhaupt lohnt, eine Therapie anzufangen. „Seine Flasche Wein ist das Einzige, was er noch hat. Ich kann ihm diese doch nicht einfach wegnehmen. Was hat er denn sonst noch im Leben?“ – eine Aussage, die Forstner schon mehrmals von besorgten Angehörigen gehört hat. Doch ihre Antwort darauf ist klar: „Es ist nie zu spät für eine bessere Lebensqualität.“

*Namen von der Redaktion geändert

Mutmacher

Autorin

Lien Herzog

Fotograf

Jan Ehlers

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1 Kommentar

Daniil (14) – 10.11.2015, 19:10 Uhr

Das ist ein sehr schweres Problem,denn wenn man die ganze Zeit aufpasst bekommen die Menschei das Gefühl nicht mehr ganz ´´Frei`` zu sein und eher andere zu belasten.Man darf ihnen auch keinen vorwurf machen,denn das wirkt wiederum auf dem Geist der Leute. Man sollte mehr über Probleme reden und in der Gesellschaft mehr Ablenkung finden,dann denkt man weniger daran und es ist peinlich immer vor anderen die ganze Zeit ´´Pillen´´ zu schlucken.Also; Viel Ablenkung,Gute Umgebung mit offenen und sozialen Menschen. Ich hoffe das es hilft.

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