Streetwork in der Corona-Krise: „Die Zahl von Straßenkindern steigt!“
Eckhard Baumann, Vorsitzender des „Straßenkinder e.V.“ und Leiter des Kinder- und Jugendhauses BOLLE, über die Gefahren, welche die Corona-Krise und die damit einhergehenden Ausgangs- und Kontaktsperren speziell für Kinder und Jugendliche aus problembeladenen Familien mit sich bringen.
Der Verein „Straßenkinder e.V.“ fördert sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche durch Bildung und gesellschaftliche Teilhabe und verhindert so, dass sie auf der Straße landen. Im Kinder- und Jugendhaus BOLLE finden betroffene junge Menschen eine Anlaufstelle mit vielfältigen (Bildungs-)Angeboten. Der Verein arbeitet zudem präventiv im Hinblick auf mediale Verwahrlosung, Gewalt und sexuelle Übergriffe. Darüber hinaus ist „Straßenkinder e.V.“ in der Straßensozialarbeit aktiv, nimmt Kontakt zu obdachlosen Kindern und Jugendlichen auf, um sie schnellstmöglich von der Straße zu holen und ihnen auf dem Weg zurück in die Gesellschaft begleitend zur Seite zu stehen.
Die 2016 fertiggestellte Erweiterung des Kinder- und Jugendhauses BOLLE wurde von uns mit insgesamt 300.000 Euro gefördert.
Deutsche Fernsehlotterie: Wie ist euer Projekt von der Corona-Pandemie betroffen und vor welchen Herausforderungen steht ihr aktuell?
Eckhard Baumann: Die Corona-Pandemie macht es erforderlich, dass unser Kinder- und Jugendhaus Bolle momentan geschlossen ist. Wir dürfen, wie Schulen und Kindergärten, momentan keinen Betrieb weiterführen. In der Straßensozialarbeit ist das anders, das sind obdachlose junge Menschen, die wir betreuen, da herrscht Hochbetrieb, weil andere Kältehilfeeinrichtungen geschlossen haben. Da ist der Ansturm riesig und da arbeiten wir auch mit entsprechenden Schutzmaßnahmen: Wir halten uns an die strikten Hygienemaßnahmen, tragen Mundschutz und Handschuhe und näherer Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen wird derzeit vermieden. Das ist für unsere Arbeit natürlich eine sehr schwierige Situation.
Ein großer Teil unserer Arbeit ist normalerweise der beziehungsorientierte und persönliche Kontakt. Ganz analog, also. Jetzt müssen wir in der Krise alles auf digital umstellen, was eine große Herausforderung ist. Auch, im Alltag überhaupt den Kontakt zu den Schutzbefohlenen zu halten. Nicht jedes Kind hat ein Handy, geschweige denn einen Laptop. Und das darf auch kein Dauerzustand sein, denn der persönliche Kontakt ist eigentlich durch Nichts zu ersetzen. Alles andere ist zu steril auf Dauer. Aber in den kommenden Tagen und Wochen versuchen wir, unter den vorgegebenen Standards das Beste für die Kinder und Jugendlichen zu tun.

Foto: Eckhard Baumann, Vorstand von „Straßenkinder e.V.“ und Leiter des Kinder- und Jugendhauses BOLLE
Deutsche Fernsehlotterie: (Wie) könnt ihr auf die aktuelle Situation reagieren?
Eckhard Baumann: Wir sind schon sehr früh aktiv und kreativ geworden, schon bevor klar war, wie hart die Restriktionen tatsächlich sein würden. Wir haben Online-Challenges entwickelt, kleine Spiele, die wir mit den Kindern spielen. Sie erhalten eine Aufgabe und können dann kleine Videos einreichen. Jeden Tag wird ein Tagessieger gekürt. Wir haben auch Lebensmittelpakete geschnürt und Spielepakete, die wir den Familien vorbeibringen. Wir verschicken eine wöchentliche Message, dass wir noch da sind und was wir anbieten für die Eltern und die Kinder. Es wurde ein Sorgentelefon eingerichtet, wir bieten Online-Hausaufgabenbetreuung – und vieles mehr. Unsere Mitarbeitenden sind weiterhin mit den Kindern und Jugendlichen in Kontakt, versuchen, auch online hinzuhören, wo vielleicht der Schuh drückt – und wo vielleicht auch Gefahr im Verzug ist. Wir versuchen alles, was uns möglich ist, um in dieser Situation den Kindern und Jugendlichen zu helfen, sie nicht allein zu lassen.

Foto: Hausaufgabenbetreuung per Video-Chat durch eine Mitarbeiterin von Haus BOLLE
Deutsche Fernsehlotterie: Welche Gefahren drohen den von euch betreuten Kindern derzeit vermehrt?
Eckhard Baumann: Viele der von uns betreuten Kinder und Jugendliche leben in problembeladenen Familien. Für sie ist es sowieso nicht einfach. Und momentan haben sie kein Ventil, sie können nicht zu uns ins Haus Bolle gehen und auch nicht einfach mal raus nach draußen. Sie haben Ansprechpartner in uns, ja, aber momentan eben nur online. Und das ist doch etwas anderes, als wenn man jemandem gegenübersitzt. Das ist momentan nicht möglich und für viele Kinder ist das eine Belastung. Gerade, wenn allen in der Familie die Decke auf den Kopf fällt, oder schlimmer, sogar Gewalt vorkommt.
Und in der Straßensozialarbeit ist es so, dass wir eine Zunahme an jungen Obdachlosen feststellen müssen. Warum das passiert? Weil die Kinder und Jugendlichen es zu Hause nicht mehr aushalten, weil es nur noch Streit gibt und eben kein Ventil mehr da ist. Und dann gehen sie einfach raus und gesellen sich zu den Gruppen, die schon länger auf der Straße leben. Das ist eine sehr schlimme Situation, auch, weil die Hygienebedingungen auf der Straße natürlich deutlich schlechter sind und die Ansteckungsgefahr damit umso höher ist.

Foto: Streetwork mit Abstand, Mundschutz und Handschuhen.
Deutsche Fernsehlotterie: Wie kann man euch derzeit am besten unterstützen?
Eckhard Baumann: Besonders in der jetzigen Situation kann man uns durch Spenden helfen. Wir haben bereits jetzt festgestellt, dass die Spendeneinnahmen zurückgehen. Beispielsweise sind und etliche Spenden von Unternehmen weggebrochen. Gerade in der Straßensozialarbeit haben wir einen erhöhten Lebensmittelbedarf, wir haben derzeit auch längere Öffnungs- bzw. Arbeitszeiten. Unsere Mitarbeitenden arbeiten derzeit fast zwölf Stunden am Tag – und das nicht an fünf Tagen in der Woche, sondern jeden Tag.
Deutsche Fernsehlotterie: Was liegt euch in Sachen Corona-Krise noch auf dem Herzen?
Eckhard Baumann: Vergessen Sie die vielen sozialen Projekte in Deutschland nicht. Helfen Sie ihnen weiterhin, unterstützen Sie auch jetzt Straßenkinder e.V. und das Kinder- und Jugendhaus Bolle. Das wäre eine große Hilfe. Denn die Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, sind gerade in den jetzigen Zeiten besonders betroffen. Es sind alle betroffen, ja, aber gerade bei den Randgruppen ist es umso schwieriger und prekärer. Also: Unterstützen Sie und helfen Sie dort, wo es Ihnen möglich ist. Vielen Dank!
3 Kommentare
weiterhin CDU CSU FDP und die besonders stark sozial arrangierte SPD wählen und die Problem der Strassenkinder werden gelöst. Ich spende keine Cent mehr für Menschen die sich selber in Not gewählt haben. Es dafür gibt genug Organisationen die sich für Tiere einsetzen zb. Strassenkatzen Strassenhunde. Denn Tiere sind die besseren Menschen!
Hallo Andreas, wir sind überzeugt, dass Menschen, die in Not sind, Hilfe erhalten sollten. Die Gründe, warum ein Mensch auf der Straße lebt, sind vielfältig. Bei Straßenkindern kann dies zB eine Flucht vor etwas anderem sein – wie vor Konflikten in der Familie oder Gewalterfahrung. […]
[...] Deshalb ist es wichtig, dass es Streetworker wie die von Straßenkinder e.V. gibt, die mit ihnen Kontakt aufnehmen und ihnen kurzfristig helfen, aber auch langfristig dabei, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln. [...]
[...] Außerdem setzt sich der Verein dafür ein, dass Kinder aus problembeladenen Familien gar nicht erst auf die Straße "fliehen". Natürlich bleibt es jedem selbst überlassen, ob, wie und welche gemeinnützigen Organisationen er unterstützen möchte. Viele Grüße vom Team der Deutschen Fernsehlotterie
Ich biete in Berlin Köpenick ab Samstag 02.05. täglich die Möglichkeit zu Duschen und ein Essen an. Kontakt per PN mit mir aufnehmen. Es können auch immer 2 sein um das Sicherheitsgefühl zu wahren. Ich bin da völlig offen.
„Irgendwie habe ich das Gefühl, genau diesen Text und dessen Inhalt, mit genau diesem Wortlaut, schon früher von einer Hellersdorfer Organisation gelesen zu haben“.ich hoffe, dass diese Pressemeldung nicht abgeschrieben wurde.
Hallo Helene, danke für Deinen Hinweis. Das Interview haben wir Anfang April 2020 persönlich mit Eckhard Baumann, dem Vorsitzenden von "Straßenkinder e.V.", geführt. Es wurde parallel als Video aufgezeichnet und im Rahmen der #CoronaWirgefühl-Reihe auf unseren Social Media-Kanälen (Instagram/Facebook) veröffentlicht. Viele Grüße vom Team der Deutschen Fernsehlotterie
Streetwork in der Corona-Krise: „Die Zahl von Straßenkindern steigt!“
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