Sich selbst nicht vergessen: Hilfe für pflegende Angehörige
Der lateinische Begriff „demens“ bedeutet „verrückt“ – oder auch: „ohne Verstand“. Beides sind Vorurteile, die Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft bis heute anhängen. Oft wird die Krankheit daher tabuisiert, Betroffene und (pflegende) Angehörige fühlen sich nicht verstanden und isoliert. Das muss sich ändern! Ein Beispiel, wie dies im Kleinen gelingen kann, ist das Demenzcafé „Vergiss Dich Nicht“ in Osnabrück.
Demenz ist ein Thema, das uns alle angeht. Denn zu den derzeit rund 1,7 Millionen Betroffenen in Deutschland, kommen jedes Jahr etwa 40.000 Patientinnen und Patienten hinzu! In Zukunft werden also immer mehr Menschen mit Demenz in Familien, Stadtteilen und Nachbarschaften leben. Umso wichtiger ist es, die Vorurteile gegenüber der Krankheit zu beseitigen (zum Beispiel durch kostenlose „Demenzpartner-Kurse“), Betroffenen soziale Teilhabe zu ermöglichen und pflegende Angehörige zu unterstützen.

Bei einer Demenz baut das Gehirn mit der Zeit immer weiter ab. Der Beginn ist schleichend, zeigt sich meist zunächst durch kleinere Gedächtnisstörungen. Doch das Fortschreiten der Krankheit führt nicht nur für die betroffene Person zu erheblichen Veränderungen – sondern kann im Zerfall der gesamten Persönlichkeit münden. Für pflegende Angehörige stellt dies, neben der körperlichen Belastung während der täglichen Versorgung des geliebten Menschen, eine zusätzliche seelische Belastung dar. Doch aufgrund des Stigmas, das Betroffenen und ihren Familien heute noch anhängt, fällt es vielen schwer, Hilfe einzufordern oder anzunehmen.
Demenz ist kein schönes Thema. Aber es ist ein wichtiges, weil es viele Menschen betrifft und in Zukunft noch mehr betreffen wird.
„Leider ist das Thema Selbsthilfe noch sehr verschlossen“, weiß auch Rebecca Witte. Die junge Pflegefachkraft leitet unter anderem im Osnabrücker Stadtteil Voxtrup das Demenzcafé „Vergiss Dich Nicht“. Zweimal im Monat treffen sich hier demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen mit anderen Betroffenen.
Demenz-Café: Wie ein Kaffeeklatsch im Wohnzimmer
Während ehrenamtliche Helferinnen den Tisch im Gemeinschaftsraum des Pfarrheims der St. Antonius Kirchengemeinde eindecken, begrüßt Rebecca Witte ihre Gäste herzlich. Gerade betritt Catharina Hentschel mit ihrer Mutter Luise Berkemeyer den Raum. Rebecca Witte umfasst die zarte Hand von Frau Berkemeyer mit beiden Händen, sagt: „Wie schön, dass sie da sind!“ Frau Berkemeyer lächelt.



Nach und nach suchen sich alle Gäste einen Platz am Tisch. Christa, eine der sechs Ehrenamtlichen, ohne die das Demenz-Café nicht realisierbar wäre, verteilt Pflaumenkuchen auf die Teller. Fast fühlt es sich an, als säße man in großer Runde in einem Wohnzimmer: Alle genießen die süße Leckerei, man unterhält sich über Rezepte, über die Musik, die im Hintergrund läuft, über Alltägliches. Es wird gelacht und diskutiert – soll man Rehe nun füttern und wenn ja: mit was? – und wenn man es nicht besser wüsste, würde man in dieser halben Stunde nicht merken, dass ein Drittel der Menschen am Tisch an Demenz erkrankt ist. Manchmal ist aber genau das für pflegende Angehörige ein Problem.

„Viele Menschen verstehen das nicht. Dass Menschen mit Demenz auch ganz normal rüberkommen – wenn man sich nur eine Stunde lang mit ihnen unterhält“, sagt Catharina Hentschel in kleiner Runde. Während ihre Mutter und die anderen Demenzpatientinnen und -patienten mit Christa und den weiteren Ehrenamtlichen im Gemeindesaal eine Runde kegeln, tauschen sich die Angehörigen mit Rebecca Witte nebenan über ihren Alltag und ihre Probleme aus.



„Dass bestimmte Themen ständig wiederholt werden“, sagt Catharina Hentschel weiter, „in Schleifen, die manchmal eine halbe Stunde dauern können, bekommen viele Außenstehende gar nicht mit.“ Heiko Pott nickt zustimmend. „Ich habe meine Mutter lange Zeit gepflegt und musste feststellen, dass sich Demenzkranke einem selbst gegenüber anders verhalten, als wenn beispielsweise Besuch da ist“, sagt der 45-Jährige. „Meine Mutter hat es in solchen Situationen geschafft, einen Vorhang vorzuhalten und so zu tun, als sei alles gut. Oft wurde mir gesagt: ‚Was willst du denn, sie ist doch gut drauf!‘ Doch wenn der Besuch weg war, ist der Vorhang gefallen.“ Eine weitere Teilnehmerin stimmt ihm zu: „So war das bei meinem Mann auch.“

Oft sind es ernste Gespräche, die Heiko Pott, Catharina Hentschel und die weiteren Angehörigen in dieser kleinen Runde führen. Doch sie tun gut – denn einen so ehrlichen Austausch finden sie in ihrem Umfeld meist nicht. Zu erfahren, dass andere vor ähnlichen Herausforderungen stehen und wie sie damit umgehen, ist enorm hilfreich. „So ist es manchmal leichter zu verstehen, ob das normal ist, was da passiert“, sagt eine der Teilnehmerinnen.
Bei der Pflege eines demenzkranken Angehörigen stößt man schon mal an seine Grenzen.
Seit Juli 2018 bietet das Demenzcafé „Vergiss Dich Nicht“ zweimal im Monat diesen Erfahrungsaustausch für Angehörige an, der gleichzeitig auch eine kleine Auszeit von der täglichen Pflege ist. Zwischen drei und fünf Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind regelmäßig dabei. „Es gibt deutlich mehr pflegende Angehörige in unserem Stadtteil“, weiß Rebecca Witte. „Vielen fällt es aber zunächst schwer, Angebote wie dieses wahrzunehmen, weil das Thema Demenz immer noch sehr schambehaftet ist. Wenn sie dann aber doch mal hier waren, herrscht meist Erstaunen: ‚Mensch, das habe ich mir ganz anders vorgestellt, vielleicht wäre das doch ganz sinnvoll…‘“
Schöne Momente abseits der häuslichen Pflegesituation schaffen
Im Gemeinderaum herrscht derweil ausgelassene Stimmung. Es wird gekegelt und gesungen – nicht nur eine Aktivierung der motorischen und kognitiven Fähigkeiten, sondern auch eine willkommene Abwechslung für die Seniorinnen und Senioren. Christa und die anderen Ehrenamtlichen haben vor ihrem freiwilligen Einsatz eine Ausbildung als Demenzbegleiterinnen absolviert und wissen daher, wie sie etwa die unbefangene Neugier, die Menschen mit Demenz oft entwickeln, zusätzlich fördern können. So wird neben den Bewegungsspielen und dem Singen von Volksliedern an manchen Tagen auch Marmelade oder Apfelmus gekocht, im Herbst Laternen oder Fensterbilder gebastelt oder Gesellschaftsspiele gespielt. „Das ist schön, denn alle haben etwas davon“, sagt Frau Linda. „Wir Pflegende können alles loswerden, was uns belastet, und unsere Angehörigen kommen nach dem Spielen zufrieden nach Hause.“



Menschen mit Demenz vergessen vielleicht vieles, Gefühle sind davon jedoch nicht betroffen. Gemeinsam lachen und schöne Momente erleben – auch, wenn der Alltag oft schwierig ist – ist immer noch möglich und unheimlich wichtig. Umso mehr genießen die Teilnehmenden des Demenzcafés auch den gemeinsamen Teil zu Beginn: „Viele Besucherinnen und Besucher sind Kinder mit ihren Eltern“, sagt Rebecca Witte. „Gerade für sie ist es schön, an diesem Tag bewusst Zeit außerhalb der häuslichen Pflegesituation zu verbringen.“ Ein Gewinn für beide Seiten!
Mutmacher in schwierigen Entscheidungen
Heiko Potts Mutter lebt inzwischen in einem Pflegeheim. Trotzdem kommt der 45-Jährige noch immer regelmäßig zum „Vergiss Dich Nicht“-Treffen. Er möchte seine Erfahrungen einbringen – und anderen die Angst vor schwierigen Entscheidungen nehmen: „Bei der Pflege eines demenzkranken Angehörigen stößt man schon mal an seine Grenzen“, sagt er. „Dann ist es wichtig, dass man auch selbst erkennt, dass es so nicht mehr geht. Sonst tut es weder dir gut noch der anderen Person.“ Die Zeit mit seiner Mutter, die er häufig im Pflegeheim besucht, kann er nun wieder genießen. Doch viele Angehörige haben Angst vor der Verurteilung Außenstehender. „Manche Menschen sagen, dass man die Person abschiebt“, weiß eine Teilnehmerin, „doch so ist das nicht. Sowas sagen Menschen, die keine Ahnung haben. Ich finde es schlimm, dass man das Gefühl hat, eine solche Entscheidung rechtfertigen zu müssen. Es gibt bestimmt auch Leute, die die Pflegesituation von vorn herein nicht ertragen könnten – und das muss man dann auch akzeptieren.“

Für mehr Akzeptanz und Verständnis für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen wirbt Rebecca Witte in ihrem Stadtteil mit viel Engagement. „Ich liebe meinen Job einfach“, sagt die junge Frau. „Und ich finde es sehr wichtig, auch mit jungen Menschen hierzu in Kontakt zu treten.“ In der Tagespflege, in der Witte arbeitet, besuche beispielsweise eine 14-Jährige einmal pro Woche die Gäste, um mit ihnen zu spielen. „Wenn die Jugendlichen Interesse zeigen, dann ist es wichtig, sie auch zu halten. Gerade, was soziale Praktika oder ehrenamtliches Engagement angeht, wird das immer wichtiger“, sagt Witte. Ihr größter Wunsch ist, dass das Thema Demenz in der Gesellschaft offen und ehrlich besprochen wird. „Es ist kein schönes Thema, das stimmt“, sagt Witte. „Aber es ist ein wichtiges Thema, weil es viele Menschen betrifft und in Zukunft noch mehr betreffen wird.“
Info
- Das Demenzcafé richtet sich an dementiell erkrankte Menschen im frühen bis mittleren Stadium der Krankheit und ihre Angehörigen. Es wurde im Rahmen des Projekts „Quartiersmanagement in Voxtrup“ der Elisabeth Pflege in Kooperation mit der Kirchengemeinde Voxtrup und dem Mehrgenerationenhaus in Haste umgesetzt. Wir freuen uns, dass wir mit einer Förderung von rund 93.000 Euro einen wichtigen Teil dazu beitragen konnten!
- Die Treffen in Voxtrup finden jeden ersten und dritten Donnerstag im Monat von 15.30 Uhr bis 18.00 Uhr im Pfarrheim der St. Antonius Kirchengemeinde in Osnabrück statt.
1 Kommentar
Sehr gut und interessant sind alle Ihre Themen die Sie ansprechen, besonders die Aufklaerung "Leben mit Demenz". Auch weis ich sehr Wohl , das die obige Auseinandersetzung, gerade fuer mich und meine liebe Frau Yvonne, ein grosses Interesse gefunden hat, das ich weiter, mit meiner Gattin nachgehen werde. Mit freundlichen Gruss aus Sued Amerika Yvonne & Robert Pohl
Sich selbst nicht vergessen: Hilfe für pflegende Angehörige
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