Rausgehen, dreckig machen – und die Sorgen vergessen
Während ihre Klassenkameraden in den Sommerferien wegfahren, ist für Kinder aus ärmeren Familien ein Urlaub meist nicht drin. Mit unseren kostenlosen Kinderreisen setzen wir uns dafür ein, dass betroffene Mädchen und Jungen die wichtige Auszeit vom Alltag trotzdem erleben können. 2019 ging es für 30 Mädchen und Jungen auf die Beaumont Farm, ein kleines Paradies in Mecklenburg-Vorpommern.
Gleich hinter dem Tor der Beaumont Farm steht ein großer Stein. So groß, dass die beiden Berner Sennenhunde Adam und Eva mit ihren neugierigen Nasen nicht drankommen. Alle Gäste des Schulbauernhofs laufen bei ihrer Ankunft an diesem Stein vorbei – und ein paar von ihnen betrachten das, was sie auf der Farm erwartet, erst mal in Ruhe von dort oben. Denn es kommt vor, dass manche Kinder Angst vor den großen Hunden haben. Adam und Eva sind zwar sanftmütig, ihre Freude über neue Gäste fällt jedoch meist stürmisch aus – und dann sind sie „aufdringlich ohne Ende“, sagt Luise Beaumont lachend. Ängstliche Kinder trägt die 34-jährige Hofbesitzerin daher Huckepack vom Auto zu dem großen Stein. Von dort können sie sich mit der Situation und den Tieren vertraut machen. „Ich habe es noch nie erlebt, dass es lange gedauert hat, bis die Kinder sich vom Stein herunter getraut haben.“



Adam und Eva leben im Paradies. Wortwörtlich. Ihr Hof ist umgeben von riesigen Feldern und Streuobstwiesen. Sie teilen ihn sich mit Kaninchen, Hühnern, Eseln, Laufenten. Neben eben diesen wächst wiederum ein „Food Forest“ – ein „essbarer“ Wald mit Obstbäumen, Sträuchern, Kräutern. Und von allem, was dort gedeiht, kann (und darf!) man essen. Den „Food Forest“ hat Luises Mann Anthony angelegt, der derzeit einen Permakultur-Designkurs belegt. Gemeinsam mit ihm hat sich die 34-Jährige hier, in Freidorf in Mecklenburg-Vorpommern, ihren Kindheitstraum erfüllt.
Ich hatte eine traumhafte Kindheit auf dem Bauernhof. Das habe ich mir für meine Kinder auch gewünscht.
„Seit ich fünf Jahre alt war, habe ich alle meine Sommerferien auf diesem Hof verbracht“, erzählt Luise, deren Großmutter nur ein Dorf weiter wohnt. Damals gab es viele Pferde auf dem Bauernhof. „Ich war ein richtiges Pferdemädchen und wollte den ganzen Tag nur reiten“, erinnert sich die Farmbetreiberin. „Ich habe aber auch mitgeholfen: Zäune gebaut, die Pferde eingeritten, Kühe getrieben. Alles, was so gemacht werden musste. Und ich bin immer schön dreckig nach Hause gekommen.“ Sie lacht. „Ich hatte eine traumhafte Kindheit. Draußen sein, in der Natur, mit den Pferden über die Felder reiten und zum See, um mit ihnen schwimmen zu gehen – das waren jeden Sommer meine Highlights. Und das habe ich mir für meine Kinder auch gewünscht.“



Mehrere Jahre lang formte sich in den Köpfen von Luise und Anthony die Idee „ihrer“ Farm. Lange Zeit mehr ein Wunschtraum als greifbare Realität. Doch als sie dann 2017 die Vorbesitzer des Hofes auf der Geburtstagsfeier von Luises Oma wieder trafen und diese sagten, dass sie verkaufen wollten, ging alles ganz schnell: Schon wenige Monate später gehörte das Grundstück Luise und Anthony. Seitdem vermitteln sie dort auf Englisch und Deutsch – Anthony ist Brite – nicht nur ihren eigenen Kindern den respektvollen Umgang mit Tier und Natur, sondern auch vielen jungen Feriengästen. Im Sommer 2019 unter anderem 30 Kindern im Alter von acht bis zwölf Jahren aus Mecklenburg-Vorpommern, die im Rahmen der Kinderreisen auf der Beaumont Farm ihren ersten Urlaub überhaupt unternehmen konnten.
Neues Selbstvertrauen für Kinder, die es im Alltag schwer haben
Mit unseren Kinderreisen möchten wir als Soziallotterie ein Zeichen gegen Ausgrenzung und Kinderarmut setzen. Laut einer Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung lebt im Durchschnitt jedes vierte Kind in Deutschland in relativer Armut. Das heißt, ihre Familien haben zwar eine gesicherte Existenz, leben aber oft nur mit dem Nötigsten. Für betroffene Kinder bedeutet dies der Verzicht auf vieles, was für Gleichaltrige selbstverständlich ist: ein eigenes Zimmer, warme Kleidung im Winter, täglich eine warme Mahlzeit, die Möglichkeit, Freunde nach Hause einzuladen, bis hin zu Ausflügen und Urlauben. Damit geht nicht nur eine für die kindliche Entwicklung wichtige Erlebnis- und Erfahrungsmöglichkeit verloren – nämlich Zeit der Erholung und Regeneration vom oft belastenden Alltag und die Möglichkeit, dabei etwas Schönes zu erleben –, sondern auch das Selbstbewusstsein der Kinder leidet.




„Die Mädchen und Jungen wirkten zum Teil schon viel reifer, als andere in ihrem Alter“, stellt auch Luise fest. „Vielleicht, weil sie wegen der besonderen Lebensumstände schneller erwachsen werden müssen.“ Für die junge Mutter steht daher eines während der Ferienwoche auf dem Bauernhof an erster Stelle: „Die Kinder sollen entschleunigen. Das heißt, sie dürfen auch mal faulenzen.“ Denn das geht durchaus auch aktiv: Auf der Beaumont Farm gibt es viel zu entdecken, die vielen Tiere freuen sich über Besuch. Ihre Aufgaben auf dem Hof dürfen sich die Kinder selbst suchen. „Eine Gruppe hat sich zum Beispiel um die Hasen gekümmert. Da wurde gleich gewerkelt und ein neues Häuschen gebaut“, erzählt Luise. „Alles aus eigener Initiative. Wir lassen sie da einfach machen, sobald wir wissen, dass sie das schaffen.“ Die Kinder lernen so, Verantwortung zu übernehmen – und gleichzeitig wird ihnen das Gefühl vermittelt, dass ihnen vertraut wird.
Ich habe gelernt, immer mal wieder etwas zurückzuschalten und mich einfach zu entspannen.
Die Kommunikation auf Augenhöhe ist Luise wichtig. In Workshops zeigt sie ihren Feriengästen, wie man aus Milchkartons Portemonnaies faltet, wie man leckere Brötchen backt oder wie man seine eigene Seife gießt – und das häufig mit Hilfe von YouTube-Videos. „Ich bin nicht diejenige, die sagt, dass sie alles weiß. Deshalb schauen wir uns die Tutorials gemeinsam an und setzen sie auch gemeinsam um. Gleichzeitig wollen wir den Kindern die Medien nicht verbieten, sondern sie mit dem, was wir machen, verbinden“, erklärt Luise, die früher Schreibseminare an der Universität in Abu Dhabi geleitet hat. „So kommen sie vielleicht darauf, mal online etwas nachzuschlagen, was nicht mit TikTok [Social-Video-App, die vor allem unter Kindern und Jugendlichen beliebt ist; Anm. d. Red.] zu tun hat.“








Endlich wieder richtig Kind sein
Einige wenige Regeln werden am Start der Ferienwoche von allen gemeinsam aufgestellt. „Ich finde es wichtig, die Kinder daran zu beteiligen“, sagt Luise. Dabei geht es vor allem um das respektvolle Miteinander auf dem Hof. Auch in ihrem Zimmern dürfen die Kinder ihre Regeln fürs Zusammenleben aufstellen. „Das machen sie, damit sie einen Gemeinschaftssinn entwickeln“, erklärt Luise. „Und das klappt wirklich gut.“
Das zeigt auch die Resonanz der Kinder am Ende der Woche. Leon mochte vor allem „das leckere Essen“, das gemeinsam aus den Lebensmitteln, die auf dem Hof wachsen, gekocht wird. Auch Mariebelle hat das gefallen: „Luise hat viele Kochbücher“, so das junge Mädchen. „Die habe ich oft gelesen.“ Saleh hat hingegen die Natur und das Wandern genossen. „Ich habe gelernt, immer mal wieder etwas zurückzuschalten und mich einfach zu entspannen“, sagt er. Lukas gefiel das das Englisch sprechen und das Herstellen der Seife. Aber auch der richtige Umgang mit Tieren ist ihm nach seiner Ferienwoche nun besonders wichtig: „Man darf Tiere nicht ärgern. Vor allem nicht die Hasen. Die kriegen nämlich schnell einen Herzinfarkt.“

Die Woche auf dem Hof war für die Mädchen und Jungen eine ganz neue Erfahrung. „Als sie hier ankamen, wussten sie zum Teil erst mal nix mit sich anzufangen“, sagt Luise. „Nach dem Essen wollten sie aufs Zimmer, selbst bei gutem Wetter. Aber am Ende, da haben sie sogar im Regen getanzt, sind richtig durch die Pfützen gesprungen und die Hunde um sie herum. Da hat man richtig gemerkt, dass der Alltagsstress endlich abgefallen ist und sie einfach nur mal wieder richtig Kind sein konnten.“
Über die Kinderreisen
Viele Familien, vor allem Alleinerziehende und solche mit mehr als drei Kindern, können sich einen Urlaub nicht leisten. Damit betroffenen Kindern der Genuss erholsamer Ferien dennoch nicht verwehrt bleibt, ermöglichen wir mit den Kinderreisen jedes Jahr über 1.000 Mädchen und Jungen aus sozial benachteiligten Familien oder Heimen eine kostenlose Urlaubswoche in speziell ausgewählten Camps in ganz Deutschland.
Update: Auch 2020 haben wir es trotz schwieriger Bedingungen geschafft, unser Herzensprojekt in kleiner Form umzusetzen. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderschutzbund Schleswig-Holstein und dem Ortsverband Würselen e.V. ermöglichten wir betroffenen Kindern ein kleines Ferienprogramm, vom erlebnisreichen Waldspaziergang bis zur kostenlosen Schwimmwoche.
Rausgehen, dreckig machen – und die Sorgen vergessen
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