Gegen Gleichgültigkeit im Alltag: Ein Leitfaden für mehr Miteinander
Menschen unkompliziert zusammenbringen – das möchte Quartiersmanagerin Ursula Kreutz-Kullmann in „ihrem" Quartier in Merkstein, Herzogenrath. Doch das ist nicht immer so einfach. Mit Nachbarschaftslotsin Nicole Kasper-Kuklik verfasste sie daher einen Leitfaden für mehr Miteinander. Im Interview sprechen die beiden Frauen über ihre Ideen für eine Gemeinschaft unter Nachbarn, Herausforderungen – und wann Nachbarschaft an ihre Grenzen stößt.
Frau Kreutz-Kullmann, Frau Kasper-Kuklik, was macht für Sie eine lebenswerte Nachbarschaft aus?
Ursula Kreutz-Kullmann: Für mich sind es diese typischen Situationen: Wenn dir die Eier beim Backen fehlen, kannst du sie dir ausleihen. Oder du kannst am Briefkasten ein Schwätzchen halten. Und wenn mal ein Notfall ist, findet man jemanden, der einen unterstützt. Ich bin zum Beispiel einmal vor dem Haus gegen eine Laterne gelaufen und habe mir eine Platzwunde zugelegt. Da kam sofort ein Nachbar mit einem Handtuch und ein anderer hat mich zum Arzt gefahren.
Nicole Kasper-Kuklik: Ich genieße diese Schwätzchen vor der Haustür auch total. In meiner Nachbarschaft ist es so, dass wir uns aushelfen – ob das geliehene Gartengeräte sind oder das sprichwörtliche Salz, das fehlt.

Nicole Kasper-Kuklik
„Ich bin in meiner Straße ein Nachbarschafts-Infopunkt. Ich bin niedrigschwellig ansprechbar für alle Nachbarn und kann ihnen Informationen geben. Zum Beispiel, wenn es um Pflege und Vorsorge geht. Ich bin zwar keine Expertin, aber aus der Schulung zur Seniorenlotsin, die ich absolviert habe, konnte ich den Kontakt zu wichtigen Ansprechpartnern herstellen und weiß , an wen sich die Menschen wenden können.”
Wodurch zeichnet sich Ihr Quartier aus?
Ursula Kreutz-Kullmann: Der Stadtteil an sich ist geprägt durch den Steinkohlebergbau. Das hat zur Folge, dass es bei der männlichen Bevölkerung oft gesundheitliche Beeinträchtigungen gibt, ob im Bewegungsapparat oder den Atemwegen. Im Vergleich zu den Bevölkerungsdaten insgesamt in Herzogenrath, ist das Alter in Merkstein höher. Es gibt viele „junge Alte“, also Menschen um die 60 Jahre, und im Verhältnis dazu zurzeit noch wenig sehr alte Menschen. In Zukunft werden also zunehmend mehr hochaltrige Menschen im Stadtteil leben. Unser Ziel ist es, die Menschen zu vernetzen, damit sie sich gegenseitig helfen und auch im hohen Alter möglichst lang in ihrem zu Hause leben können.
Wie wichtig ist eine gut vernetzte Nachbarschaft im Hinblick auf den Demografischen Wandel?
Ursula Kreutz-Kullmann: Auf alles, was ich mir erarbeite, solange ich noch mobil bin – und dazu gehört auch ein funktionierendes Nachbarschaftsnetzwerk –, kann ich als hochaltriger Mensch zurückgreifen. Das heißt im Alter wird der Gewinn, den man von einer guten Nachbarschaft hat, noch einmal viel dringlicher. Es gehört zur Lebensqualität im Alter dazu, dass man Menschen hat, mit denen man sich unterhalten kann und die einem auf der Straße einfach mal zulächeln. Aber auch, dass ich weiß: Wen spreche ich an, wenn ich mal wirklich Hilfe brauche.
Eine provokante Frage: Haben wir Nachbarschaft verlernt?
Ursula Kreutz-Kullmann: Ich finde die Frage nicht provokant, sondern ich glaube, dass sie die Wirklichkeit trifft. Vielleicht haben wir es nicht verlernt, aber wir haben weniger Ressourcen. Ich habe als junge Mutter in einem Wohnprojekt gelebt und viel mehr Zeit gehabt, Nachbarschaft zu pflegen. Wenn ich das mit meiner jetzigen Lebenssituation vergleiche – vollberufstätig und ein verantwortungsvolles Ehrenamt – da bleibt kaum Zeit, Kontakt zu meinen Nachbarn zu haben.
Nicole Kasper-Kuklik: Dem kann ich nur beipflichten. Ich komme vom Dorf und wenn meine Oma so erzählt, wie das früher war… Da war man aufeinander angewiesen: Man hatte Landwirtschaft, das schaffte man nicht alleine. Und man ist eben auch mal zum Nachbarn gegangen und hat sich unterhalten, beim Stricken oder Kochen. Seit es Fernsehen und Co. gibt, ist das nicht mehr so.
Der Leitfaden soll in erster Linie Mut machen und Lust darauf, etwas gemeinsam zu unternehmen.
Welche Bedeutung hat Nachbarschaft für junge Familien?
Ursula Kreutz-Kullmann: Ich glaube, dass junge Familien von Nachbarschaft profitieren, weil sie eben auch eine Unterstützung oder Entlastung bekommen können. Im Quartier gibt es zum Beispiel eine Familie, die eine Tochter im Grundschulalter hat, und die oft bei der älteren Dame nebenan ist. Die liest ihr dann vor – ein bisschen, wie eine Ersatz-Oma. Das ist für beide Parteien eine Win-Win-Situation.
Nicole Kasper-Kuklik: Ich war schon einmal in einer Situation, in der ich ein Baby mit Fieber und einen aufgeweckten Vierjährigen zu Hause hatte, den ich nicht in eine volle Praxis mitnehmen wollte. Da hat mir dann auch ganz spontan eine Nachbarin ausgeholfen. Es sind diese kleinen Sachen, die es ausmachen.
Wo stößt Nachbarschaft an ihre Grenzen?
Ursula Kreutz-Kullmann: Das möchte ich gern mit einem Beispiel beantworten: Eine ältere Dame zeigte Anzeichen einer Demenz. Sie lebte alleine, hatte kaum soziale Kontakte. Eine Nachbarin bemerkte beim Einkaufen die zunehmende Desorientierung. Sie tauschte sich mit der langjährigen Fußpflegerin der Dame aus und mit den Menschen, die mit ihr im selben Haus wohnten. Dann wendeten sie sich an mich, weil sie die Selbstbestimmung der Dame nicht ignorieren wollten, aber sie auch nicht mit der Demenz alleine lassen wollten. Sie wussten nicht: Was können wir tun? Wir haben vereinbart, die Situation weiter zu beobachten – und an einem bestimmten Punkt, als die Demenzsymptome zugenommen hatten, haben wir den sozialpsychiatrischen Dienst informiert, damit die Dame professionelle Hilfe und Unterstützung erhält. Für mich ist das ein positives Beispiel von Nachbarschaft: Das Umfeld der Dame war aufmerksam und achtsam, gleichzeitig respektvoll. Das Beispiel zeigt aber auch deutlich, wo Nachbarschaft an ihre Grenzen stößt.

Frau Kasper-Kuklik, sie haben für Ihr Quartier einen Nachbarschaftsleitfaden entwickelt. Was können die Menschen darin erfahren?
Nicole Kasper-Kuklik: Der Leitfaden soll in erster Linie Mut machen und Lust darauf, etwas gemeinsam zu unternehmen, auf einer niederschwelligen Basis. Er soll Hilfe geben, wenn man ein kleines Fest unter Nachbarn plant und überlegt: Was muss ich da eigentlich beachten?
Ursula Kreutz-Kullmann: Nicole, du hast ja schon ein Nachbarschaftsfest gemacht, bevor du den Leitfaden entwickelt hast. Und danach auch noch einmal eines. Mich würde interessieren, ob sich da im Vergleich etwas verändert hat? Du hast dich ja auch zum Beispiel mit Hygienevorschriften beschäftigt…
Nicole Kasper-Kuklik: Ja, ich habe früher eingeladen. Denn, das kennen wir ja: Wir haben alle viele Termine. Da ist es wichtig, früh genug Bescheid zu geben. Und das mit der Hygiene… da habe ich dann noch einmal ganz anders drauf geguckt.

Tag der Nachbarn
Am 24. Mai 2019 feiern Nachbarschaften in ganz Deutschland wiederden Tag der Nachbarn. Ob Picknick, Grillparty, Wohnzimmerkonzert oder auf der Straße: Egal wie klein oder groß das Fest wird, die nebenan.de Stiftung unterstützt Nachbarn bei der Organisation (www.tagdernachbarn.de) Auch der Leitfaden aus Merkstein bietet hier eine tolle Orientierung.
Übrigens: Wir sind auch wieder als Partner beim Tag der Nachbarn mit dabei!
Ab dem 20. Mai 2019 stellen wir Dir verschiedene Nachbarschaftsprojekte vor. Schau dann noch einmal auf unserer Seite vorbei und flaniere mit uns durch unser virtuelles Viertel.
Seit wann können Nachbarn auf den Leitfaden zugreifen?
Ursula Kreutz-Kullmann: Er ist vor etwa einem halben Jahr veröffentlicht worden und über das Internet zugänglich. Es ist schon beachtlich, dass die Resonanz von außen, also überregional, sehr groß ist. Und vor Ort eher zögerlich. Aber es war ja auch Winter. Jetzt im Frühjahr machen die Menschen ja auch wieder mehr draußen und sind empfänglicher dafür, eine Nachbarschaftsaktivität zu planen – ein toller Anlass ist zum Beispiel der 25. Mai, der europäische Tag der Nachbarn. Da werde ich die Menschen im Quartier vorher noch einmal drauf hinweisen, das ist schließlich ein toller Anlass. Und mit dem Leitfaden geht ein kleines Nachbarschaftsfest dann auch ganz einfach von der Hand.
Eine lebenswerte Nachbarschaft zu gestalten, das zeigt auch Ihr Beispiel, funktioniert nicht von heute auf morgen. Dennoch setzen Sie sich unermüdlich ein. Was ist Ihre Motivation?
Ursula Kreutz-Kullmann: Ich finde es total wichtig, Selbstverständlichkeiten zwischen Menschen und in der Nachbarschaft zu fördern. Leider funktioniert das in vielen Nachbarschaften noch nicht oder nicht mehr. Vielen ist gar nicht bewusst, wie viel das für die Lebensqualität ausmacht, am Tag ein Lächeln von einem echten Menschen – nicht aus dem Fernseher – bekommen zu haben. Es macht Sinn, immer wieder gegen die Sprachlosigkeit und die Gleichgültigkeit im Alltag anzukämpfen.
Was ist Ihre Zukunftsversion für Ihr Viertel?
Nicole Kasper-Kuklik: Ich backe viel kleinere Brötchen als Frau Kreutz-Kullmann… Doch wenn ich meine Straße ansehe, dann würde ich sagen, da entwickelt sich gerade die Zukunftsvision, die ich gehabt hätte, wenn ich vorher darüber nachgedacht hätte: Es findet ein Generationenwechsel statt, die Mischung ist zwischen Älteren und jungen Familien ist gut. Das bereichert alle.
Ursula Kreutz-Kullmann: Ich wünsche mir, dass es in „meinem“ Quartier ganz viele Menschen gibt, die kleine Brötchen backen. Denn das ist es, was wirklich etwas bewegt.
Info
- Als Quartiersmanagerin setzt sich Ursula Kreutz-Kullmann für eine lebendige und lebenswerte Nachbarschaft ein. Etwas, das auch uns sehr am Herzen liegt. Deshalb wir freuen uns, dass wir das Projekt „Mitten in Merkstein” der Arbeiterwohlfahrt Aachen Land mit einer Förderung von 91.370 Euro unterstützen können!
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