„Man hält sich selbst für Dreck“
Dominik Bloh hat elf Jahre lang regelmäßig auf der Straße gelebt. In seinem Buch „Unter Palmen aus Stahl“ schreibt der 31-Jährige über seine Erfahrungen und hat es damit sogar auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Im Interview erzählt der Hamburger, wie er den Absprung geschafft hat und warum es wichtig ist, sich für andere einzusetzen. Dominik Bloh zeigt selbst wie es geht: Er engagiert sich für Obdachlose und ist Mitinitiator des Projekts „GoBanyo“. Dabei handelt es sich um einen Duschbus für wohnungslose Menschen, der bald auf Hamburgs Straßen unterwegs ist.

Deutsche Fernsehlotterie: Dominik, Du bist in einer Februarnacht 2005 zum ersten Mal obdachlos geworden, mit gerade einmal 16 Jahren. Wie war Deine erste Nacht auf der Straße?
Dominik Bloh: Ich bin auf der Straße gelandet, weil meine Mutter in einer Kurzschlussreaktion sagte, dass ich aus der Wohnung raus sollte. Sie war psychisch krank und hat zu so etwas geneigt. Danach hatte ich zwei Stunden Zeit, um zwei Koffer zu packen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich dann auf der Straße stand und zurück zur Wohnungstür geguckt habe. Ich war plötzlich allein, es war stockdunkel und im Schnee konnte ich meine Fußabdrücke und die Spuren der Autoreifen sehen. Da wurde mir klar: Okay, das ist nun also mein neues Leben. Erstmal dachte ich auch, dass ich Hilfe bekommen würde. Ich lief zu einem Freund, der in der Nähe gewohnt hat. Doch obwohl er wach war und mich gesehen hat, hat er die Tür nicht aufgemacht. Das war ein richtiger Schlag in die Fresse. Ich wusste nicht, wohin ich als nächstes gehen sollte. Am nächsten Morgen habe ich am Bahnhof zufällig meine Mutter wiedergesehen. Ich hatte Hunger vom ganzen Hin- und Herlaufen und habe sie nach Frühstück gefragt. Daraufhin gab es ein Nein. Auch wegen dieser zwei sehr verletzenden Erfahrungen, die ich in der allerersten Nacht gemacht habe, fiel es mir später schwer, um Hilfe zu bitten.
Deutsche Fernsehlotterie: Ist Dir nach den Erfahrungen der ersten Nacht bereits bewusst geworden, dass Du länger obdachlos sein würdest?
Dominik Bloh: Ich war 16 Jahre jung und hatte keinen Plan. Ich dachte an Mädchen, Feiern und Sport. Ich wusste gar nicht so richtig, was passiert. Wenn man plötzlich auf der Straße lebt, gibt es niemanden, der einen einweist und sagt, was als Nächstes zu tun ist. Man ist dann tatsächlich ganz auf sich allein gestellt und findet sich in einer großen Rastlosigkeit wieder, weil man nur damit beschäftigt ist, auf die eigenen Bedürfnisse, auf Kälte und Hunger einzugehen. Wenn der Magen knurrt, muss man etwas machen. Man gibt sich dann eher einem Zwang hin und ist kaum in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen.

Deutsche Fernsehlotterie: Was ist neben Kälte und Hunger das Schlimmste, wenn man auf der Straße lebt?
Dominik Bloh: Das Schlimmste war für mich das Waschen. Man sieht es nicht, wenn jemand friert oder Hunger hat. Aber wenn du dreckig bist, nehmen dich plötzlich Menschen wahr, die dich sonst nicht wahrnehmen würden. Das hat bei mir ganz viel ausgelöst. Wenn man dreckig ist, fühlt man sich auch dreckig. Man hält sich selbst für Dreck, fühlt sich wertlos, als Nichts. Das äußere Erscheinungsbild ist das erste Unterscheidungsmerkmal. Das habe ich überall gespürt, zum Beispiel an der Supermarktkasse oder beim Jobcenter.
Deutsche Fernsehlotterie: Du musstest auch betteln, um über die Runden zu kommen. In Deinem Buch schreibst Du, dass Du Dich am Wort „betteln“ störst. Warum?
Dominik Bloh: „Betteln“ bedeutet für mich „nach Hilfe fragen“. Es gehört viel dazu, sich dafür zu entscheiden, sich kleinzumachen und jemanden um etwas zu bitten. Wir alle tun uns schwer damit, um Hilfe zu fragen. Bei vielen hört die Freundschaft auf, wenn es um Geld geht. Ich habe großen Respekt vor Menschen, die um Hilfe bitten, denn ich selbst habe es oft nicht geschafft, mein Ego und meinen Stolz herunterzuschlucken. Ich habe mich oft falsch entschieden und habe gestohlen und betrogen. Jemand, der bettelt, tut das gerade nicht. Das finde ich bewundernswert.
Deutsche Fernsehlotterie: Was hat Dir damals geholfen, die Hoffnung nicht aufzugeben?
Dominik Bloh: Auf jeden Fall meine Großeltern, die immer an das Gute in mir geglaubt haben. Obwohl sie schon früh verstorben sind, waren sie auch nach ihrem Tod für mich da. Dadurch haben sie mir ganz viel Kraft und Mut gegeben, weiterzumachen und mich nicht aufzugeben. Ich wollte, dass sie stolz auf mich sein können. Es ist immer die Liebe, die einen am Leben hält.

Deutsche Fernsehlotterie: Du hast bis zum Sommer 2015 auf der Straße gelebt. Wie hast Du es geschafft, Dein Leben zu ändern?
Dominik Bloh: Mir wurde irgendwann bewusst, dass der Weg, den ich gehe, eine Einbahnstraße ist. Diese Erkenntnis brauchte Zeit, denn auf der Straße kommt man nicht wirklich dazu, nachzudenken. Deswegen bin ich froh, auf St. Pauli den Park mit den Stahlpalmen gefunden zu haben. Dort konnte ich zur Ruhe kommen und mich reflektieren. Dabei habe ich festgestellt, dass meine Handlungen Ursache für die Situation sind, in der ich mich befinde. Ich habe erkannt, dass ich bei mir selbst beginnen muss, um etwas zu verändern. Dazu gehörte es, die Wahrheit zu sagen und auch mir selbst gegen über ehrlich zu sein. Wenn ich jemanden anlüge, kann man mich nicht kennenlernen. Indem man dagegen Gutes tut, trifft man auf gute Menschen und bekommt neue Chancen.
Deutsche Fernsehlotterie: Jetzt hast Du eine Wohnung und einen Job. Was geht Dir durch den Kopf, wenn Du jetzt Obdachlosen begegnest? Bleibst Du stehen? Sprichst Du sie an?
Dominik Bloh: Ich bleibe bei jedem stehen, der mich anspricht, egal ob jemand nach dem Weg oder nach Geld fragt. Das hat mit der Frage zu tun, wie wir in unserer Gesellschaft miteinander umgehen. Wenn man den Weg nicht weiß, sagt man das und wünscht viel Glück. Genauso sollte man sich verhalten, wenn man um Geld gebeten wird. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn man einfach schweigend weiterläuft oder sogar lügt, dass man gerade kein Geld dabeihat. Es ist okay, wenn man kein Geld geben möchte, aber dann sollte man trotzdem kurz stehen bleiben und das auch sagen. Dann zeigt man, dass man den Gegenüber respektiert und auf Augenhöhe begegnet. Jemanden anzulügen, ist das Schlimmste, was man tun kann. Es ist nie zu viel, jemandem Zeit und Aufmerksamkeit zu geben.


Deutsche Fernsehlotterie: Du hast es geschafft, das Thema Obdachlosigkeit wieder stärker in die öffentliche Diskussion zu bringen. Dein Buch ist Spiegel-Bestseller, Du bist in Talk-Shows zu Gast, gibst Interviews, schreibst einen Blog und eine Zeitungskolumne. Du setzt Dich aber auch auf andere Weise für Betroffene ein. Zum Beispiel arbeitest Du gemeinsam mit anderen Engagierten am Projekt „GoBanyo“, das auch von uns gefördert wird. Was ist das Besondere am Projekt?
Dominik Bloh: Wir arbeiten seit einem Jahr daran, die Idee zu verwirklichen, und freuen uns, dass sie bald Realität wird. Das Projekt kann viel bewirken, ganz einfach weil Aussehen so viel ausmacht. Man kann nur selbstbewusst sein, wenn man sich in seiner Haut wohl fühlt. Wir haben die Möglichkeit, einfach zu Hause zu bleiben, wenn wir uns in unserer Haut nicht wohlfühlen. Obdachlose Menschen können das nicht. Wenn man die Möglichkeit hat, sich regelmäßig zu duschen, hat man den Mut, wieder neue Schritte zu gehen. Es ist wichtig zu verstehen, dass Scham ein großes Problem für diese Menschen darstellt. Sie sind nicht zu faul, zu einer Anlaufstelle zu gehen. Sie sind nicht zu faul, zum Arzt zu gehen. Sie schämen sich, sich auszuziehen. Sie schämen sich, wenn sie im Jobcenter von Security-Mitarbeitern angesprochen werden. Sie schämen sich, an der Supermarktkasse in der Schlange zu stehen. Wenn man frisch geduscht ist und frische Klamotten hat, traut man sich. Deswegen wird GoBanyo Türen öffnen.

Deutsche Fernsehlotterie: Der Duschbus wird in Hamburg unterwegs sein und vielen Menschen helfen. Aber ist das Angebot nicht eigentlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein? Laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe verfügten im Jahr 2016 etwa 860.000 Menschen über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum. Vor elf Jahren lag die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland noch bei rund 227.000.
Dominik Bloh: Es ist mit Sicherheit kein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn das Projekt in Hamburg viel bewirkt, wird auch ganz schnell klar, dass es in anderen Großstädten denselben Bedarf gibt. Am Ende des Tages wollen wir durch das Projekt auch Aufmerksamkeit schaffen und auf Probleme hinweisen. Der Duschbus wurde sogar in der Tagesschau erwähnt. Es gibt noch viel zu tun. Wir Leben in einer Zeit des Wandels, in der wir uns entscheiden müssen, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen. Es muss auch darum gehen, dass in diesem Land jeder eine Wohnung haben sollte.
Deutsche Fernsehlotterie: Wie kann man wohnungslosen Menschen aus Deiner Sicht am besten helfen? Ist es damit getan, hin und wieder einen Euro fallenzulassen, oder muss ihnen tatsächlich Wohnraum zur Verfügung gestellt werden, wie Du sagst?
Dominik Bloh: Ich glaube, alle Menschen könnten leben, wie sie wollen, wenn man sie nur lassen würde. Ich kann in ganz einfachen Verhältnissen leben, solange meine Würde nicht beschränkt wird. Wir können alle etwas tun, indem wir mehr Akzeptanz und Verständnis zeigen. Darüber hinaus ist die Politik gefragt, denn sie muss sich um Wohnraum kümmern. Der Ansatz „Housing First“ (engl., frei übersetzt: „zuerst wohnen, dann alles andere“) spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Erst wenn jemand eine Wohnung hat, kann er sich um alles andere kümmern. Man kann nur etwas bewegen, wenn man einen Ruhepunkt hat. Nur so kann man dem Hamsterrad der Rastlosigkeit entkommen.

Deutsche Fernsehlotterie: Du hast nicht nur das Projekt „GoBanyo“ mitinitiiert, sondern auch die Hilfsorganisation Hanseatic Help. Hanseatic Help versorgt und unterstützt Geflüchtete, Obdachlose und andere Mitmenschen kostenlos mit Kleidung und anderen Artikeln des täglichen Bedarfs und leistet logistische Unterstützung für andere soziale Organisationen in Hamburg und anderen Bundesländern. Warum findest Du es wichtig, sich für andere einzusetzen?
Dominik Bloh: Als ich auf der Straße gelebt habe, war mir bewusst, dass ich immer noch besser lebe als wahrscheinlich 90 Prozent der Weltbevölkerung. Wir in Deutschland müssen uns jeden Tag bewusst machen, was es für ein Segen ist, dass es uns so gut geht. Als Gesellschaft können wir nur stark sein, wenn wir auch den Schwächsten helfen. Wenn ich anderen helfe, geht es mir auch selbst besser. Man bekommt sehr viel zurück. Dass mir Menschen sagen, wie erfolgreich ich bin, liegt nur daran, dass ich Gutes tue.
Deutsche Fernsehlotterie: Empfindest Du dabei Glück? Oder anders: Was bedeutet Glück für Dich?
Dominik Bloh: Es ist alles eine Entscheidung. Wir haben jeden Tag die Wahl. Wir können jetzt entscheiden, dass unser Leben zum Glück verläuft. Dabei gibt es zwar ganz viele Hürden, aber es ist möglich. Ich habe gesehen, dass es funktioniert. Das hätte ich nie gedacht. Ich habe oft falsche Entscheidungen getroffen, aber seit einigen Jahren treffe ich richtige Entscheidungen, die mich auf diesen Weg führen. Das hat nichts mit Glück zu tun, ist aber der Weg zum Glück.
Deutsche Fernsehlotterie: Zu guter Letzt: In Deinem Buch hast Du eine Frage offengelassen, die vielleicht auch nicht so einfach zu beantworten ist. Hast Du Deiner Mutter verziehen?
Dominik Bloh: Ich habe meiner Mutter verziehen und das darf man auch gerne erfahren, weil es ein ganz wichtiger Faktor ist. Als ich von der Einbahnstraße gesprochen habe, meinte ich all die negativen Sachen: Gewalt in der Kindheit, das zwiespältige Verhältnis zu meiner psychisch kranken Mutter, Hass, Wut, Neid, Missgunst, Eifersucht. Auf der Straße hat man es immer nur mit diesen negativen Sachen zu tun. Doch all das bringt dich nicht weiter. Nur positiv zu sein und das Gute zu sehen, bringt etwas. Lass das Schlechte weg und das Gute kommen! Es ist so viel Gutes da. Es ist nur so, dass wir das oft übersehen. Heute schaffe ich es, in den kleinsten Dingen die größte Schönheit zu sehen.
Info
- Das Projekt “GoBanyo”, ein Duschbus für wohnungslose Menschen, finden wir großartig und freuen uns darüber, dass wir Personalkosten für den Betrieb des Busses mit 167.000 Euro fördern konnten.
- Dominik Bloh schreibt außerdem einen Blog, der hier zu finden ist: blog.ankerherz.de/author/dominik-bloh
- Sein Buch “Unter Palmen aus Stahl: Geschichte eines Straßenjungen” erschien im Ankerherz Verlag. ISBN: 978-3-945877-21-0
8 Kommentare
Ein schöner Artikel, der Mut macht. Es gibt Verönderung auch in scheinbar ausweglosen Situationen. Der schönste Satz: " Lass das Schlechte weg und das Gute kommt. Es ist so viel Gutes da".
1 1/2 Jahre war ich auch obdachlos, als Student in der Abschlussphase des Studiums. Ich kann vieles nachvollziehen, wovon hier die Rede ist. Vor allem das Gefühl für die wirklich wichtigen Dinge hat sich bei mir geändert. Heute fühle ich mich sehr glücklich mit meiner Familie in meiner Wohnung. Der schmale Grat zum Abgrund ist mir allerdings auch stets bewusst. Wie wichtig es ist, seine Entscheidungen genau danach zu sortieren, ob sie (einem) helfen oder schaden.
Ich finde diesen Duschbus genial. So wahrt er den Leuten auf der Straße das letzte bisschen Menschenwürde. Cooler Typ, der Dominik
obdachlos zu sein ist ne harte nuss ,die man wieder knacken muss leider ist es die realität das jeder wegschaut und niemand dan für einen da ist wenn man keine familie hat respekt an dominik wünsche dir alles gute für deine zukunft
Es war sehr interessant zu lesen und auch traurig.Mir stehen Tränen in den Augen.Find ich toll, wenn Menschen sich für andere einsetzen.Für die Schwachen in unserer Gesellschaft.Mach weiter so.
Das Waschen ist so wichtig! Anstatt einen Euro zu geben, lade einen Obdachlosen zu Dir nach Hause zum Duschen ein. Dazu alle Klamotten und die Penntüte in Waschmaschine und Trockner. Mehr ist nicht drin und das muss klar ausgesprochen werden. Das ist so viel mehr als ein Euro und danach sieht fast ein anderer Mensch vor Dir!
Habe selbst mal aus der Situation heraus einen Obdachlosen aufgenommen, mit ihm seine Papiere und Dinge in Ordnung gebracht. Es hat unglaublich Zeit und Nerven gekostet. Zwar ist er nach zwei Jahren wieder abgerutscht und auf der Straße verstorben. Aber der Versuch war es wert. Helmut hieß er. Helmut Lahrson. Er war ein guter Mensch.
Ich frage mich bei diesem Thema oft, wie es in einem sozial abgesicherten Land überhaupt so einfach und häufig zu Obdachlosigkeit kommen kann? Als 16-Jähriger geht man doch zunächst zur Polizei. Es wird sich dort doch sicher darum gekümmert, wenn eine Mutter ihren minderjährigen Sohn auf die Straße setzt. Dominik hätte nie obdachlos sein müssen. So, wie kaum ein deutscher Staatsbürger. Die Wohnungskosten werden doch von Staat übernommen für Bedürftige. Wie also kommt es nur dazu?
„Man hält sich selbst für Dreck“
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