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„Wer nicht lesen kann, hat keinen Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe“

Kinder, die nicht schon früh an das Lesen herangeführt wurden, weisen später Defizite in der Lesekompetenz auf. Diese ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für ein starkes Miteinander und gesellschaftliche Teilhabe, erklärt Dr. Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, im Interview.

Die gute Nachricht zuerst: Auch wenn die Welt digitaler, die Texte kürzer und Sprachnachrichten immer beliebter werden, spielen Bücher noch immer eine wichtige Rolle im Alltag vieler Kinder. Die schlechte Nachricht ist, dass die Kinder, die nicht schon früh an das Lesen herangeführt wurden, später Defizite in der Lesekompetenz aufweisen – diese ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für ein starkes Miteinander und gesellschaftliche Teilhabe. Im Interview erzählt Dr. Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, wie sich das Leseverhalten im Laufe der Zeit verändert hat, wie es Einfluss auf unsere Gesellschaft nimmt und welche Ideen es gibt, um die Leseförderung und damit das Miteinander in Deutschland zu stärken.

Deutsche Fernsehlotterie: Herr Dr. Maas, wie hat sich das Leseverhalten im Laufe der Zeit verändert?

Dr. Jörg F. Maas: Bei der Stiftung Lesen liegt uns vor allem das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen am Herzen. Und das hat sich natürlich verändert: Das Lesen in digitalen Formaten – z.B. bei WhatsApp oder Instagram – hat deutlich zugenommen. Da würde man gleichzeitig auch vermuten, dass das Lesen von Büchern abgenommen hätte, was interessanterweise nicht der Fall ist. In unseren Statistiken zeigt sich, dass in den letzten 25 Jahren zwischen 52 und 54 Prozent der Kinder und Jugendlichen regelmäßig zum Buch greifen. Man liest nun also (auch) in anderen Formaten, aber die Lektüre des Buches – ob digital oder haptisch – ist nicht zurückgegangen.

Deutsche Fernsehlotterie: Was hat das heutige Leseverhalten für eine Bedeutung für bzw. welchen Einfluss hat es auf das Leben von Kindern und Jugendlichen?

Dr. Jörg F. Maas: Das war die gute Nachricht, die ich Ihnen nennen konnte. Jetzt kommen die weniger guten Nachrichten: Wenn Sie sich z.B. die PISA-Ergebnisse der letzten Jahre angucken – aber auch die aller anderen Studien, die Lesekompetenz messen – muss man feststellen, dass Deutschland nicht besonders gut abschneidet. Wir sind unterhalb des Durchschnitts und das gibt natürlich Anlass zur Sorge. Denn ehrlich gesagt: Der Digitalisierungsschubs und die weiteren Bildungsanstrengungen von Bund und Ländern haben sich bisher leider nicht in einer besseren Lesekompetenz niedergeschlagen.

Deutsche Fernsehlotterie: Woher kommt es, dass wir bei der Lesekompetenz so schlecht abschneiden?

Dr. Jörg F. Maas: Ich glaube, das hat verschiedene Ursachen. Aus den vielen Jahren, die wir als Stiftung aktiv sind, wissen wir, dass Kinder mit größerer Freude und besser lesen, wenn ihnen innerhalb der ersten sechs Lebensjahre vorgelesen wurde. Die Bildungsstudien werden mit Schulkindern durchgeführt. Daher wird oft angenommen, dass die Fehler in der Schule liegen. Doch das Problem ist viel mehr, dass nur zwei Drittel der Familien in Deutschland ihren Kindern regelmäßig vorlesen. Das heißt andersherum: Ein Drittel der Eltern liest nicht oder zu selten vor. Doch diese 15 Minuten am Abend oder am Wochenende, die man mit den Kindern gemeinsam Bücher anschaut, sind eine Chance, die Eltern nicht verpassen sollten. Man muss mit der Förderung viel früher ansetzen. Die Kinder, denen in ganz jungen Jahren vorgelesen wird, verfügen bei Schuleintritt über einen viel größeren Wortschatz, sie können sich sprachlich besser ausdrücken, sich besser in andere Menschen hineinversetzen – und tatsächlich haben sie in der Regel auch einen besseren Notendurchschnitt. Wenn Eltern ihren Kindern also etwas Gutes tun wollen und zudem eine gute Zeit mit ihnen verbringen möchten, dann sollten sie vorlesen – so früh und so häufig wie möglich.

Eine Frau liest mehreren Kindern aus einem Buch vor, die Kinder schauen interessiert in das Buch hinein.

Deutsche Fernsehlotterie: Welche Auswirkung hat das Leseverhalten auf unsere Gesellschaft?

Dr. Jörg F. Maas: Um es auf den Punkt zu bringen: Ich glaube, dass Kinder, denen vorgelesen wurde und die selbst Interesse am Lesen haben, aktive, kreative, empathische und auf Gemeinschaft orientierte Menschen sind. Nicht weniger als das.

Deutsche Fernsehlotterie: Wie meinen Sie das?

Dr. Jörg F. Maas: In der Tat entwickeln Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, mehr Empathie, weil sie sich in Charaktere hineinversetzen können. Sie können Dinge besser abstrahieren, sind in der Regel musikalischer, bewegen sich mehr und sind gern mit anderen Kindern zusammen. Lesende Kinder sind Rollenvorbilder und in der Lage, unsere Gesellschaft positiv zu beeinflussen. Das ist extrem bereichernd. Der wichtigste Aspekt ist allerdings – und da komme ich noch einmal zurück zu Ihrer Frage, welche Auswirkung das Leseverhalten auf unsere Gesellschaft hat: Wer nicht lesen kann, hat keinen Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe.

Deutsche Fernsehlotterie: Sie haben es gerade schon erwähnt: Lesen stärkt das Miteinander. Können Sie darauf noch einmal konkreter eingehen?

Dr. Jörg F. Maas: Wenn Kinder lesen, reden sie über die Geschichte. Wenn Erwachsene ihnen vorlesen, dann fragen sie häufig: Was sind deine Erfahrungen mit der geschilderten Situation? Wenn man also das solidarische Miteinander und Bildung verbinden will, ist das Lesen eine wunderbare Möglichkeit. Es schafft bessere Voraussetzungen für jedes einzelne Kind und die Gemeinschaft. Für diesen Austausch braucht es keine hohe Literatur. Kinder- und Jugendbücher sind geradezu prädestiniert dafür, neue Dinge zu entdecken und mehr über andere Menschen zu erfahren.

Ein kleines Mädchen hält ein Buch fest umschlungen.

Deutsche Fernsehlotterie: Sie haben die Zahl genannt: Ein Drittel der Eltern lesen nicht vor, was sich für die Kinder später als Nachteil herausstellt. Ihr Defizit führt dazu, dass sie im schlimmsten Fall weniger Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe haben. Wie kann man dieses Problem angehen?

Dr. Jörg F. Maas: Wir arbeiten seit etwa zehn Jahren mit allen Kinderärztinnen und -ärzten in Deutschland zusammen. Bei der U6-Untersuchung, wenn das Kind ein Jahr alt ist, bekommen die Eltern in den Praxen das sogenannte „Lesestart-Set“ überreicht. Das besteht aus einem altersgerechten Buch und Informationen für die Eltern mit der Empfehlung: Lesen Sie Ihrem Kind vor. Dabei ist es übrigens völlig egal, in welcher Sprache vorgelesen wird. Die Zusammenarbeit mit den Kinderärztinnen und -ärzten ist deswegen so vortrefflich, weil nahezu alle Eltern mit ihren Kindern zu den U-Untersuchungen gehen.

Ein anderes Beispiel ist der bundesweite Vorlesetag am 19. November 2021. Da engagieren sich hunderttausende Menschen in Kitas, Grundschulen, sozialen Einrichtungen und lesen vor. In der Regel sind das Erwachsene, aber oft genug auch Jugendliche, die in Alters- oder Pflegeheime gehen und den Seniorinnen und Senioren vorlesen. Es geht also in beide Richtungen.

Drei Millionen Kinder in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben

Deutsche Fernsehlotterie: Sie verleihen gemeinsam mit der Commerzbank-Stiftung jährlich den Deutschen Lesepreis. Wie kann dieser auf das Leseverhalten einwirken?

Dr. Jörg F. Maas: Wir möchten mit dem Deutschen Lesepreis diejenigen, die tolle Ideen haben und damit einen gesellschaftlichen Wandel bewirken, auszeichnen. Gleichzeitig möchten wir damit Vorbilder schaffen und signalisieren: Das könnt auch ihr an eurer Schule, an eurer Kita oder in eurer kommunalen Einrichtung umsetzen. Es gibt insgesamt sechs Kategorien – es ist sozusagen ein bisschen wie der Oscar der Leseförderung. Und wir setzen ihn gemeinsam mit wichtigen Partnern um.

Deutsche Fernsehlotterie: Wir sind, zusammen mit dem Deutschen Städtetag, Partner in der Kategorie „Herausragendes kommunales Engagement“. Welche wichtige Bedeutung hat das kommunale Engagement in der Leseförderung?

Dr. Jörg F. Maas: In dieser Kategorie werden Institutionen ausgezeichnet, die sich gemeinsam mit einem Leseförderprojekt engagieren. Das kann z.B. die Stadtverwaltung sein, die zusammen mit der Bibliothek etwas umsetzt. Aber auch viele ehrenamtliche Initiativen, die sagen: Wir wollen die Themen Lesen und Bildungszugang stärken. Der Vielfalt sind dabei keine Grenzen gesetzt. Mit diesen Modellprojekten möchten wir ein öffentliches Bewusstsein für die Notwendigkeit der Leseförderung schaffen. Drei Millionen Kinder in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben und diese Zahl hat sich in den letzten Monaten Corona-bedingt sicher noch mal erhöht. Wir wollen damit auf politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger einwirken und aufzeigen, wie in der lokalen Bibliothek, im Mehrgenerationenhaus vor Ort, in der Schule oder mit den örtlichen Ehrenamtsinitiativen das Thema Leseförderung gestärkt werden kann.

Wir unterstützen den Deutschen Lesepreis

Rund drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind lesebenachteiligt: Ihnen wird kaum oder wenig vorgelesen und sie verfügen in der Folge nur über eine (sehr) schwache Lesekompetenz. Um die Leseförderung für junge Menschen zu stärken und öffentlich sichtbar zu machen, vergeben die Stiftung Lesen und die Commerzbank-Stiftung seit 2013 den Deutschen Lesepreis.

Auch wir sind davon überzeugt, dass Lesen eine zentrale Voraussetzung ist, um selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Daher unterstützen wir die bundesweit wichtigste Auszeichnung für Leseförderung und stiften gemeinsam mit dem Deutschen Städtetag die Preiskategorie „Herausragendes kommunales Engagement“. Hier werden Organisationen ausgezeichnet, die sich für die lokale Leseförderung verdient machen.

Der Deutsche Lesepreis wird in insgesamt sechs Kategorien verliehen (eine Übersicht finden Sie hier) und ist mit insgesamt 25.000 Euro dotiert. Personen, Projekte und Einrichtungen, die sich für das Lesen einsetzen, können sich noch bis zum 30. Juni bewerben.

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Deutsche Fernsehlotterie: Die Inhalte der Kinder- und Jugendliteratur haben sich über die Jahrhunderte verändert. Können Sie etwas über die Entwicklung sagen und welche Bedeutung diese hat?

Dr. Jörg F. Maas: Kinder- und Jugendbücher sind immer ein Abbild des zeitgenössischen Lebens. Natürlich gibt es sogenannte „Evergreens“ – die Bücher etwa von Michael Ende oder Astrid Lindgren. Die werden sicher noch lange von Kindern gelesen oder ihnen vorgelesen. Jedes Jahr gibt es aber auch etwa 9.000 neue Kinder- und Jugendbücher. Wir schauen sie uns alle gemeinsam mit der Leipziger Buchmesse an und küren die besten 30 Bücher, Apps und Hörbücher mit dem Lesekompass. Diese Auszeichnung möchte eine Orientierung geben, welche spannenden Bücher es derzeit gibt. Dabei ist es uns wichtig, auch die Sicht der Kinder mitaufzunehmen – deshalb sind an der Auswahl zwei Kinder- und eine Jugendjury beteiligt. Sie sind ein wichtiger Gradmesser für relevante Themen, wie Integration, Klimaveränderung und Miteinander.

Deutsche Fernsehlotterie: Wir haben heute viel über das Lesen, über Bücher und über Inspiration gesprochen. Möchten Sie und zum Schluss verraten, was Sie als Kind gern gelesen haben – und was Sie heute begeistert?

Dr. Jörg F. Maas: Als Jugendlicher habe ich mit Vorliebe die Geschichten von Michael Ende gelesen – und alle Karl May-Bände. Die habe ich sogar mehrmals gelesen, weil ich nicht loslassen konnte. Wenn Freunde meiner Eltern kamen, wussten sie genau: Band 45 hat er noch nicht, den bringen wir mit. Und dann war ich an solchen Abenden nicht mehr lang unter den Erwachsenen, sondern habe mich mit dem neuen Buch verkrochen und losgelesen. Aktuell lese ich oft zwei, drei Bücher parallel. Wonach ich immer wieder gern greife, ist der US-amerikanische Autor Paul Auster. In der Buchhandlung nehme ich aber auch gern mal ein Buch mit, von dem ich noch nie gehört habe, um zu erfahren, was sich dahinter verbirgt.

Themenwoche: Wie Lesen das Miteinander stärkt

In unserem Online-Magazin beschäftigen wir uns vom 21.-27. Juni 2021 mit dem Thema Leseförderung und der Frage, wie Lesen das Miteinander und die gesellschaftliche Teilhabe stärkt.

Dafür fragten wir bei Bundesbildungsministerin Anja Karliczek nach, welche Maßnahmen das Ministerium für die Leseförderung umsetzt. Außerdem sprachen wir mit von uns geförderten Projekten, die sich in diesem Bereich auf unterschiedliche Weise und für unterschiedliche Zielgruppen einsetzen. Wir werfen einen Blick in öffentliche Bibliotheken in Stadt und Land – und stellen die Frage: Wie haben sich diese entwickelt und wie möchten sie ihr Publikum in Zukunft erreichen? Dr. Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, gibt uns außerdem einen Einblick in die Entwicklung des Leseverhaltens und spricht darüber, welche Auswirkung diese auf unsere Gesellschaft hat und welche wichtige Rolle das kommunale Engagement in der Leseförderung einnimmt. Im Interview erfährst du außerdem mehr über den von uns unterstützten Deutschen Lesepreis, für den sich Projekte noch bis zum 30. Juni bewerben können.

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Zukunftschancen

Autorin

Katharina Hofmann

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