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Leben mit einem Tabu

In Deutschland lebten Ende 2015 gut 84.700 Menschen mit HIV**. Rund 3.200 Menschen infizieren sich jährlich neu. Oft erfahren sie nur zufällig von ihrer Krankheit – wie nach einer Routineuntersuchung während der Schwangerschaft. Gerade dann ist die Angst groß: Werde ich mein Kind anstecken? Werde ich es aufwachsen sehen? In dieser Ausnahmesituation sind die Mitarbeiterinnen der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Hamburg e.V. für betroffene Frauen und ihre Familien da – und schenken Hoffnung.

Drei Worte sind es, die Rosas* Welt perfekt machen: „Sie sind schwanger.“ Drei Worte sind es auch, die ihre perfekte Welt kurze Zeit später in Trümmern zurücklässt: „Sie sind HIV-positiv.“

Was ihre Ärztin ihr dann erzählt, über die Diagnose, was diese für sie und das Baby in ihrem Bauch bedeutet, bekommt Rosa nicht mehr mit. „Ich war wie in einem Tunnel“, erinnert sie sich. Nur ein Gedanke kreist in ihrem Kopf: HIV = Aids = Tod.

Meine größte Angst war, dass ich die Krankheit an mein Kind weitergebe.
Rosa, HIV-Betroffene und regelmäßige Besucherin der VHIVA KIDS – Familienleben mit HIV Beratung

„Wenn die Frauen erstmals zu uns kommen, haben sie meist im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung in der Schwangerschaft gerade erst von ihrer HIV-Infektion erfahren“, sagt Sibyl Peemöller von VHIVA KIDS – Familienleben mit HIV, einem Projekt der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Hamburg e.V. (ajs). „Diese Frauen befinden sich nach der plötzlichen, unerwarteten Diagnose in einer extremen Ausnahmesituation. Wir fangen sie auf, klären alle Fragen zu ihrer Krankheit – und können ihnen Hoffnung geben.“

Flyer VHIVA Kids

Es geht um HIV – und nicht mehr um Aids!

Denn: HIV bedeutet heute nicht mehr gleich Tod. Die Bezeichnung „Human Immunodeficiency Virus“ (dt.: „Menschliches Immunschwäche-Virus“) deutet bereits an, was HIV im Menschen anrichtet: Es schädigt vor allem – aber nicht nur – das Immunsystem. Aids („Aqcuired Immunodeficiency Syndrome“, dt.: „Erworbenes Immundefekt-Syndrom“) wird nur das Spätstadium der Infektion genannt, wenn das Immunsystem so stark geschwächt ist, dass schwere Folgeinfektionen auftreten. „Inzwischen gibt es Medikamente, welche die Vermehrung der HI-Viren hemmen“, erklärt Peemöller. Aufgrund des medizinischen Fortschritts ist eine HIV-Infektion damit heute eine behandelbare, chronische Erkrankung. „In unserer Arbeit geht es in erster Linie um das Leben mit HIV und nur noch selten um das Sterben an Aids“, so die Sozialpädagogin. Die Lebenserwartung für Betroffene hat sich deutlich erhöht. So auch für Rosa.

Sybil Peemöller, Beraterin bei VHIVA Kids - Familienleben mit HIV

Sie ist heute zu Besuch bei Peemöller und ihren Kolleginnen – gemeinsam mit ihrem Sohn Jakob*. Vier Wochen ist der Kleine alt. Und mit großer Wahrscheinlichkeit nicht HIV-infiziert. Denn: Dank präventiver Maßnahmen während der Schwangerschaft, der Geburt und danach, konnte das Übertragungsrisiko von Mutter auf Kind in Deutschland auf unter ein Prozent gesenkt werden.

Man lebt nicht nur mit der Krankheit, sondern auch mit dem Stigma

Ein frühzeitiges Todesurteil ist HIV für Rosa nicht mehr. Doch das Virus ist in ihrem Leben – im Leben aller betroffenen Familien – allgegenwärtig. Und wiegt schwer. Denn auch nach über 30 Jahren HIV/Aids sind Ablehnung und Ausgrenzung keine Seltenheit. „HIV ist ein Tabuthema in der Gesellschaft“, sagt Peemöller. „Die meisten haben ein sehr verunsicherndes Halbwissen darüber, wie man sich anstecken kann. Betroffene können anderen gegenüber nicht offen mit ihrer Krankheit umgehen, denn sie löst in vielen Menschen Ängste aus – und das führt zu Ausgrenzung.“

Es hat sich noch niemand durch Umarmen, Küssen, Händeschütteln oder Anniesen angesteckt!
Sibyl Peemöller, Sozialpädagogin und Beraterin bei VHIVA KIDS – Familienleben mit HIV

Auch Rosa hat es niemandem erzählt. Zum Selbstschutz. Und zum Schutz ihres Kindes. „Was mir hilft, ist, dass ich hier viele Frauen treffe, die mein Schicksal teilen“, sagt sie. Neben der Unterstützung beim Prozess der Krankheitsverarbeitung, der Beratung und Hilfestellung bei finanziellen und sozialen Problemen und der Begleitung bei Behördengängen oder Arztterminen bietet VHIVA KIDS betroffenen Familien in (Frühstücks-)Treffs Kontakt- und Austauschmöglichkeiten. Und dennoch: Im Alltag mit diesem Geheimnis, diesem Tabu zu leben – neben der Krankheit! – ist eine schwer zu bewältigende Belastung.

Keine Angst vor Ansteckung im Alltag

Warum trotzdem viele das Leben mit dem Geheimnis vorziehen, zeigen auch die wöchentlichen Meetings immer wieder, bei denen sich Sibyl Peemöller und ihre Kolleginnen austauschen. Heute ist ein Vorfall in einer KiTa Thema: Dort geht das Gerücht um, dass ein Kind HIV-positiv ist. „Alle sind in heller Aufregung“, erzählt Sozialarbeiterin Patrizia Barth. Eine Melde- und Informationspflicht für HIV bei Kindern besteht nicht. „Ich habe vorgeschlagen, dass wir bei ihnen eine Info-Veranstaltung machen können – da sind sie zum Glück ganz offen für gewesen.“

Meeting bei den Kolleginnen der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Hamburg e.V.

„Ich hatte gerade den Fall, dass ein Zahnarzt eine Behandlung verweigert hat“, wirft eine Kollegin ein. „Das ärgert mich so sehr, dass selbst medizinisches Personal offenbar nicht ausreichend informiert ist. Auch die Erzieherinnen sollten doch eigentlich längst wissen: Es besteht kein Ansteckungsrisiko im Alltag!“

Info

  • Jährlich am 1. Dezember findet der Welt-Aids-Tag statt, an dem für mehr Solidarität mit Menschen mit HIV und AIDS geworben wird und gegen die Diskriminierung Betroffener. Gleichzeitig erinnert der Tag an die Menschen, die an den Folgen der Infektion verstorben sind.
  • Auch Sibyl Peemöller und ihre Kolleginnen von VHIVA KIDS  kämpfen täglich für mehr Solidarität gegenüber HIV-Infizierten, geben ihnen Halt und Hoffnung. Wir sagen Danke für diesen unermüdlichen Einsatz und freuen uns, dass wir dieses wichtige Projekt mit 71.000 Euro unterstützen konnten!

Das HI-Virus ist zwar in allen Körperflüssigkeiten enthalten, doch in den meisten (wie z.B. Speichel, Schweiß oder Tränenflüssigkeit) nur in kleinsten Mengen. Diese Konzentration reicht für eine Übertragung auf andere nicht aus. Zudem stirbt der Virus an der Luft innerhalb von wenigen Sekunden ab. „Soziale Kontakte sind ungefährlich. Es hat sich noch niemand durch Umarmen, Küssen, Händeschütteln oder auch Anniesen angesteckt“, betont Peemöller. „Auch nicht durch Benutzen desselben Glases oder derselben Toilette.“ Vier Körperflüssigkeiten gibt es, bei denen die Konzentration des Virus so hoch ist, dass man sich anstecken kann: Blut, Sperma, Vaginalsekret und Muttermilch. „Beim Sex muss man also sehr vorsichtig sein. Doch im Alltag besteht so gut wie keine Gefahr.“

Sibyl Peemöller schaut rüber zu Rosa, die von den Kolleginnen umringt wird. Alle wollen einen kurzen Blick auf Jakob erhaschen, der müde im Arm seiner Mutter liegt. Sie sprechen über die ersten Tage Zuhause, über das Muttersein. Und Rosa wirkt entspannt. „Ich wünsche mir“, sagt Peemöller, „dass wir den Grundpfeiler, was die Ansteckung angeht, in der Bevölkerung manifestieren können. Dass wir den Menschen die Angst vor der Ansteckung nehmen. Damit Menschen wie Rosa auch außerhalb unserer schützenden Räume keine Angst mehr haben müssen vor Stigmatisierung und Einsamkeit.“

*Namen von der Redaktion geändert.

**Statistik der Deutschen Aids-Hilfe

Mutmacher

Autorin

Katharina Hofmann

Fotograf

Deutsche Fernsehlotterie / ajs

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