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Empowerment seit mehr als 100 Jahren – Jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland

Laura Cazés von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland spricht über ein Jubiläum, die Bedeutung von Jugendbildungsaufenthalten für die Identitätsstärkung junger jüdischer Menschen und den Begriff „Zedaka“.

Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) hat seit ihrer Gründung vor mehr als 100 Jahren einen maßgeblichen Einfluss auf die soziale Arbeit in Deutschland. Am 20. August 2021 feiert sie nun ihr 70. Jubiläum der Wiedergründung nach dem Zweiten Weltkrieg. Laura Cazés leitet die Abteilung für Kommunikation und Digitalisierung, die Kernthemen ihrer Expertise sind die Diversität und Wahrnehmung jüdischer Lebenswelten in Deutschland, der Einbezug jüdischer Perspektiven in gesellschaftliche Diskursräume und die Schaffung innovativer Konzepte für und mit jüdischen Communitys. Im Interview spricht sie über das Jubiläum, die Bedeutung von Jugendbildungsaufenthalten für die Identitätsstärkung junger jüdischer Menschen und den Begriff „Zedaka“.

Deutsche Fernsehlotterie: Frau Cazés, In diesem Jahr feiert die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ein Jubiläum: 70 Jahre nach Wiedergründung. Was bedeutet dieses Jubiläum für den Wohlfahrtsverein?

Laura Cazés: Die ZWST ist die einzige überregional agierende jüdische Organisation, die die Shoah überdauert hat. Natürlich wurde sie während des Dritten Reichs zwangsgeschlossen – doch auch danach haben Mitarbeitende teilweise noch bis zu ihrer eigenen Deportation versucht, das Leid der jüdischen Bevölkerung zu lindern. Wir wissen sogar noch von einigen Mitarbeitenden der ZWST, die noch in den Konzentrationslagern Seelsorge gemacht haben und irgendwie versucht haben, Unterstützung zu leisten. Nach dem Krieg wurde sie 1951 nicht als Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden wiedergegründet, sondern als Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Für diese Namensänderung gibt es viele Gründe, etwa die Entwurzelung durch die Shoah, aber vor allem der, dass es vorrangig gar nicht mehr deutsche Jüdinnen und Juden waren, um die es ging. Sondern jüdische Menschen aus Osteuropa, die unsagbares in Konzentrations- und Vernichtungslagern erlebt hatten und als Überlebende in den alliierten Besatzungsgebieten gestrandet waren. Für ihre humanitäre Versorgung brauchte es eine Struktur und so wurde die ZWST als Institution wiedergegründet – und nahm als eine Ein-Mann-Organisation wieder den Betrieb auf. Berthold Simonsohn war damals geschäftsführender Direktor und der einzige Mitarbeiter, mit der Aufgabe, die Entschädigungszahlungen, humanitären Güter und auch die sich langsam neu gründenden Gemeindestrukturen zu koordinieren. Und gleichzeitig war die ZWST zu diesem Zeitpunkt nicht nur wieder eine deutsche Wohlfahrtsorganisation, sondern einer der sechs deutschen Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege.

Deutsche Fernsehlotterie: Wie agiert die ZWST heute?

Laura Cazés: Sie ist die soziale Dachorganisation der jüdischen Gemeinden in Deutschland, von denen es 104 gibt. Die Aufgabe der ZWST ist heute einerseits, Herausforderungen und Problemlagen für die besonders vulnerablen Zielgruppen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu identifizieren und ihnen ein niedrigschwelliges Angebot zu machen, das den Gemeindemitgliedern direkt zur Verfügung gestellt wird und gleichzeitig aber auch die Gemeinden selbst darin unterstützt, Strukturen vor Ort auszubauen. Andererseits versucht die ZWST schon seit ihrer Gründung auch dem Prinzip und dem Leitbild einer jüdischen Perspektive auf Sozialfürsorge nachzukommen und damit auch einen gesamtgesellschaftlichen Beitrag zu leisten.

Die höchste Stufe der Zedaka ist, einen Menschen in die Situation zu versetzen, nicht mehr unterstützungsbedürftig zu sein. Ein Gedanke, den wir heute auch als Empowerment bezeichnen würden.
Laura Cazés, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland

Deutsche Fernsehlotterie: Können Sie die Arbeit der ZWST gesamtgesellschaftlich einordnen?

Laura Cazés: Die ZWST ist vor über 100 Jahren mit dem Ziel gegründet worden, das jüdische Prinzip der Fürsorge – der Zedaka – im Fortschritt der Sozialarbeit mitzudenken. Das ist jetzt etwas abstrakt gesprochen. Worin sich das konkret manifestiert hat, war, dass zum Beispiel insbesondere jüdische Frauenrechtlerinnen und jüdische Sozialpionierinnen angefangen haben, im Zuge der Arbeiter- und Frauenrechtsbewegung die jüdische Perspektive der Sozialethik in diesen Bewegungen mitzudenken. Die Gründung der ZWST hat dann dazu beigetragen, dass genau diese Gedanken und Fragen, wie soziale Arbeit gestaltet und entwickelt werden kann, Eingang in einen modernen demokratischen Staat gefunden haben. Das Prinzip der Zedaka hat viele Stufen, das Prinzip der Unterstützung durch Spenden ist ein wichtiges davon, doch es ist nicht so nachhaltig, wie die höchste Stufe der Zedaka: einen Menschen in die Situation zu versetzen, nicht mehr unterstützungsbedürftig zu sein. Das ist ein Gedanke, den wir heute auch als Empowerment bezeichnen würden. In den 1920er-Jahren hat die ZWST ihren ersten großen gesamtgesellschaftlichen Auftrag erfüllt, der dann aufgrund der Entwicklungen, der Machtergreifung, der Gründung des Dritten Reiches und der systematischen Ermordung deutscher Jüdinnen und Juden aktiv herausgelöscht wurde. Und es hat auch sehr lange gebraucht, bis die ZWST überhaupt erst wieder ihre Rolle finden konnte, in der sie auch einem gesamtgesellschaftlichen Auftrag nachkommen kann. Als extrem kleiner Verband war sie nach der Wiedergründung sehr stark damit beschäftigt, sich mit einer sehr kleinen, gleichzeitig aber sehr komplexen Zielgruppe auseinanderzusetzen.

Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland

Anlässlich des 70. Jubiläums ihrer Wiedergründung möchte die ZWST den Bezug zu ihrer Geschichte hervorheben und gleichzeitig den Blick in die Zukunft richten. Symbolisch für aktuelle und zukünftige Herausforderungen sind die schnell voranschreitenden Veränderungen im digitalen Raum. Dazu gehört auch die Website der ZWST im neuen Gewand, ab heute neu gestaltet unter der gewohnten Adresse: www.zwst.org

Wir unterstützen die ZWST mit Fördermitteln in vielen Projekten, unter anderem auch in der Kinder- und Jugendarbeit, die zur Stärkung der Identität beiträgt.

Deutsche Fernsehlotterie: Was waren weitere Herausforderungen nach der Wiedergründung?

Laura Cazés: Die zentrale Aufgabe der ZWST nach Wiedergründung war die humanitäre und soziale Versorgung jüdischer Menschen in Deutschland. Damals war gar nicht klar: Was brauchen diese Menschen eigentlich jenseits der Akutversorgung? Geht es darum, hier gemeinschaftliche Strukturen zu gründen? Oder ihnen bei der Ausreise zu helfen? Die ZWST hat dann einfach erst mal gemacht und fing damit an, relativ schnell Jugendfreizeiten ins Leben zu rufen. Da ging es um Kinder und Jugendliche, die teilweise selbst die Shoah überlebt hatten oder deren Eltern irgendeine Form von Vernichtungshorror erlebt hatten. Man kann sich nicht vorstellen, wie sich so ein Familienleben gestaltet hat. Diese Jugendfreizeiten sind quasi Kinderkuren gewesen, die vier bis acht Wochen lang waren. Dabei waren dann auch nicht-jüdische Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die sich erst mal um die Kinder gekümmert haben. Es ging also zunächst um tatsächliche Versorgungsstrukturen und nicht um Spaß und Freizeitgestaltung.

Empowerment für jüdische Kinder: Jugendbildungsaufenthalte

Deutsche Fernsehlotterie: Die Jugendfreizeiten der ZWST, die wir 2021 mit 200.000 Euro Förderung unterstützen, haben bis heute Bestand. Der Inhalt hat sich jedoch verändert. Wie gestalten sich diese „Machanot“ heute?

Laura Cazés: Die jüdische Jugendbildungsaufenthalte sind heute ein Inkubator für jüdisches Leben in Deutschland. Bis in die 1980er-Jahre hatten wir es mit Jugendlichen zu tun, die größtenteils aus Überlebendenfamilien kamen und der merkwürdigen Situation ausgesetzt waren, dass sie sich in diesem Land der Täter – aus der Lebensrealität gesprochen – einfinden mussten. Und dass sie auch einen Anspruch hatten, zu studieren, Karriere zu machen usw. und gleichzeitig nicht zu wissen: Ist das das Land, in dem man selbst Kinder bekommen möchte? Es gab wenige „Safe Spaces“, wo man diese verrückte Lebensrealität, in der man nicht zu laut über sein Jüdischsein sprechen sollte, nicht erklären musste. Wenn man Menschen, die zwischen den 60ern und 80ern auf Machane gefahren sind, fragt, was ihnen Heimatgefühl gibt, sagen sie sicher nicht die Stadt, in der sie geboren wurden. Heimat, das ist da, wo ich mich nicht erklären muss. Heimat ist da, wo ich etwas mit jemandem teile, das ich nicht erklären muss. Heimat ist da, wo ich damit etwas Positives verbinde und nicht nur eine Fremdzuschreibung. Und das hat dieses Setting „jüdische Jugendbildungsaufenthalte“ geschafft. Auch für heutige Kinder. Die Erfahrung als jüdisches Kind ist in 95 Prozent des Alltags eine einsame. Das heißt, sie haben keine anderen jüdischen Kinder in ihrem Alter um sich. Was bedeutet das wiederum? Meistens bedeutet es, dass die Selbstkundgabe damit einhergeht, dass Menschen darauf erst mal sehr viel projizieren. Allein schon das Wort „Jude“ ist mit ganz vielen Projektionen verbunden, die extrem aufgeladen sind. Etwa im Schulkontext: Wenn ein Kind sagt, dass es jüdisch ist, ist im besten Fall die erste Frage: „Was feiert ihr für Feiertage zu Hause? Feiert ihr denn kein Weihnachten?“ In diesem Fall ist die Exotisierung ein gutes Szenario. Im schlechteren Fall heißt es: „Ach, wenn wir den Holocaust besprechen, möchtest du dann ein Referat machen oder etwas aus deiner Familiengeschichte erzählen?“ Und im allerschlimmsten Fall ist es so, dass Antisemitismus geschieht und die Lehrkräfte es nicht als solchen erkennen. Oder einfach hilflos sind im Umgang damit. Das sind Erfahrungen, die machen die meisten jüdischen Kinder in Deutschland. Ein „Safe Space“, wo man sich nicht erklären muss, ist deshalb essenziell. Manche Kinder gehen in diesem Setting total auf, für andere ist es nichts – das ist ganz normal. Doch die meisten sagen, dass es eine besondere Erfahrung ist, sich einfach nicht erklären zu müssen.

Laura Cazés während eines Vortrags
Laura Cazés hat als Jugendliche selbst an den Jugendbildungsaufenthalten der ZWST teilgenommen und später als Betreuerin unterstützt. Foto: Jonas Skorpil

Deutsche Fernsehlotterie: Sie haben selbst an den Sommercamps teilgenommen – als Jugendliche und auch als Betreuerin. Wie sind die Bildungsaufenthalte heute gestaltet?

Laura Cazés: Es gibt ganz viel Programm, bei dem auch der Ansatz eines informellen Bildungsauftrags verfolgt wird. Neben Spaß und Freizeitangeboten – von reiten über basteln, tanzen, singen usw. – geht es auch darum, gesellschaftliche Werte zu verhandeln. Es gibt Programme, in denen Themen wie Gerechtigkeit und Freundschaft besprochen werden, mit älteren Jugendlichen werden Themen wie Politik und Demokratieförderung behandelt. Ich habe eben über die Einsamkeitserfahrung vieler jüdischer Kinder gesprochen – auch das ist Thema in den Freizeiten. Denn damit geht einher, dass es oft wenig Bezugspunkte zum Judentum gibt, und dabei meine ich nicht explizit den religiösen Aspekt, sondern vielmehr die Traditionen und Kultur. Die Jugendfreizeiten schaffen Raum, etwas über das Judentum zu lernen, aber nicht in einem missionarischen Verständnis. Denn es ist durchaus so, und da legen wir viel Wert drauf, dass die jüdische Community in Deutschland ein sehr diverses Verständnis davon hat, wie Religion gelebt wird. Das machen alle so, wie sie es bei sich zu Hause für richtig halten. Insbesondere seit den späten 1980er-Jahren, nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion, kamen viele jüdische Menschen als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Dadurch hat sich die jüdische Community in Deutschland versechsfacht. Und das hatte auch Einfluss auf die Machanot: Die Menschen wussten zwar, dass sie jüdisch sind – das stand in ihrem Pass als Ethnie – doch Religion war in der ehemaligen Sowjetunion streng verboten. Sie hatten also gar keinen traditionellen oder religiösen Bezug zum Judentum. Deshalb wurde der Fokus dahin verlegt, den Kindern und Jugendlichen diese in den Freizeiten spielerisch näherzubringen, ohne dabei dogmatisch zu sein. Das Feiern von Schabbat gehört bei Machanot dazu, genauso wie koscheres Essen. Was die Kinder und Jugendlichen mit dieser Ressource machen, entscheiden sie dann selbst.

Die Erfahrung als jüdisches Kind ist in 95 Prozent des Alltags eine einsame. Das heißt, sie haben keine anderen jüdischen Kinder in ihrem Alter um sich. Meistens bedeutet es, dass Menschen nach der Selbstkundgabe erst mal sehr viel darauf projizieren. Allein schon das Wort „Jude“ ist mit ganz vielen Projektionen verbunden, die extrem aufgeladen sind. Das sind Erfahrungen, die die meisten jüdischen Kinder in Deutschland machen. Ein „Safe Space“, wo man sich nicht erklären muss, ist deshalb essenziell.
Laura Cazés, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland

Deutsche Fernsehlotterie: In diesem Jahr feiern wir 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Zu diesem Anlass hat die ZWST eine digitale Kampagne rund um den Begriff Zedaka gestartet, den Sie eben bereits erläutert haben. Wie kam es dazu?

Laura Cazés: Es gibt ganz viele Veranstaltungen zum Festjahr – und man muss dazu sagen: Es gibt auch in der jüdischen Community ambivalente Haltungen dazu. Schlichtweg, weil die Sorge besteht, dass dieses Festjahr so glorreich gefeiert wird, als hätte es nicht auch genau so lang, wie es jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands gibt, Antisemitismus und Judenfeindlichkeit gegeben. Gleichwohl gibt es viele spannende Formate, die genau diesen Nuancen der jüdischen Lebensrealitäten in Deutschland mehr Sichtbarkeit verschaffen. Das finde ich spannend. Für unseren Beitrag zum Festjahr haben wir überlegt: Was können wir machen? Und haben dann an das spannende Zitat des Historikers Michael Brenner aus einem Essay, das er zum 100. Jubiläum der ZWST geschrieben hat, gedacht. Er hat darin gesagt, dass die Geschichte einer Gemeinschaft, die immer auch von Armut und Migration geprägt war, eigentlich eine nicht erzählte historische Facette ist. Und er legt in dem Essay dar, welche Rolle die ZWST als stille Heldin in dieser ungeschriebenen Geschichte spielt. Das ist unser Bezugspunkt. Wir möchten mit Bezug zur Geschichte einen Blick in die Zukunft geben – niedrigschwellig über eine Digitalkampagne: auf Instagram und über eine kleine Website, auf der sich die Themen monatlich entfalten und nach und nach auch an der Geschichte der ZWST entlanghangeln. Wir wollen zeigen, wie das Leitprinzip Zedaka funktioniert und wie sich dieses Empowerment bis in die Gegenwart zieht.

Deutsche Fernsehlotterie: So vielfältig die jüdische Gemeinschaft ist, so vielfältig sind hier auch die Bestrebungen nach Empowerment. Welche beschäftigt die ZWST besonders?

Laura Cazés: Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist die Arbeit mit Shoah-Überlebenden. Viele von ihnen sind hoch betagt, aber es gibt sie noch. Und auch die zweite Generation, ihre Kinder, sind durch die traumatischen Erfahrungen der Eltern geprägt und bedürfen Betreuung. Und dann gibt es auch Fragen danach, wie etwa mit diversen Familienentwürfen innerhalb der jüdischen Community umgegangen wird – also alleinerziehend, getrennt erziehend oder Regenbogenfamilien. Diese Fragen spielen in der jüdischen Community genauso eine Rolle wie in jeder anderen auch. Und natürlich ist Antisemitismus ein großes Thema, das die jüdische Community, auch wenn sie das selbst gern anders hätte, nach wie vor beschäftigt. An dieser Stelle hat die ZWST in den letzten Jahren ihre Strukturen stark ausgebaut, um nicht nur in jüdischen Communitys mit Beratungs- und Unterstützungsstrukturen wirken zu können, sondern auch Präventions- und Interventionsarbeit in Schulen und unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Strukturen implementieren zu können.

Gesamtgesellschaftliches Wirken: Gestaltung sozialer und kultursensibler Empfangsräume als Best Practice während der sogenannten Geflüchtetenkrise

Deutsche Fernsehlotterie: Sie hatten es schon angedeutet: Insbesondere der Zuzug der sogenannten Kontingentflüchlinge aus der ehemaligen Sowjetunion hat die jüdische Gemeinschaft fundamental verändert. Wie konnte die ZWST hier empowern – und wie wirken diese Veränderung und die gesammelten Erfahrungen bis heute nach?

Laura Cazés: Bis in die späten 1980er-Jahre saßen jüdische Familien quasi auf gepackten Koffern: „Heute ist es noch gut, aber morgen vielleicht nicht mehr und dann müssen wir das Land verlassen“ – so war die Mentalität geprägt. Damals bestand die jüdische Gemeinschaft aus 30.000 Menschen. Mit dem Ministerpräsidentenbeschluss kamen zwischen 1990 und 2005 knapp 200.000 sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, nicht alle davon sind Mitglieder von jüdischen Gemeinden geworden, dennoch war das eine große Summe. Es mussten also ganz neue Strukturen geschaffen werden. Die Menschen brauchten eine Anbindung an den Arbeitsmarkt, Unterstützung bei der Ankunft in Deutschland. Und plötzlich wurde auch nicht mehr die gleiche Sprache gesprochen, nicht nur verbal, sondern auch kulturell. Die Menschen hatten auch ganz andere Sorgen. Sie dachten nicht: „Wie komme ich hier weg?“ Sondern: „Wie komme ich hier an?“ Diese Fragen setzen sich bis heute in innerjüdischen Diskursen fort. Und die Learnings, die wir aus dieser Zeit gezogen haben, konnten wir im Zuge der 2015 begonnenen sogenannten Geflüchtetenkrise als Best Practice anbieten. Wir konnten zeigen, was es bedeutet, auch soziale und kultursensible Empfangsräume zu gestalten, in denen Menschen das Gefühl haben, anzukommen. Und wie das zu einem Integrationserfolg – auch wenn ich das Wort kritisch sehe – beitragen kann. Gemeinsam mit der Organisation IsraAID Germany e.V. haben wir damals angefangen, mit israelisch-arabischen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Psychologinnen und Psychologen in Geflüchtetenunterkünften zu arbeiten, um ihnen das Gefühl zu geben: „Ok, erst mal sprechen wir eine gemeinsame Sprache, dann kümmern wir uns darum, dass du auch Deutsch lernst.“ Heute arbeiten wir mit Menschen, die traumatische Fluchterfahrungen gemacht haben, insbesondere mit Frauen. Wir machen viel mit Frauen aus der jesidischen Community, die eine ganz schreckliche genozidale Erfahrung gemacht haben. Und das bringt mich zurück auf den gesamtgesellschaftlichen Auftrag – wir kommen diesem auch nach, indem wir das, was wir machen, als Best Practice zu übertragen.

Deutsche Fernsehlotterie: Welche weiteren verschiedenen Facetten von Empowerment in der jüdischen Community gibt es?

Laura Cazés: Einzelne Initiativen zu nennen, würde ein großes Fass aufmachen (lacht). Die junge Generation tritt derzeit trotz der kleinen Community mit sehr vielen Perspektiven fast schon trotzig an die Öffentlichkeit – nicht nur mit Themen wie Antisemitismus. Sie verhandelt auch die Diversität in der jüdischen Community öffentlichkeitswirksam und all die Fragen, die sich generell momentan sozialpolitisch oder auch aktivistisch ihren Weg in den öffentlichen Raum bahnen. Jüdische Menschen sind nicht nur jüdisch. Sie sind auch Frauen, sie sind auch queer, sie setzen sich für Klimaschutz ein, sie wollen politisch aktiv sein in allen unterschiedlichen demokratischen Parteien. Es ist total spannend, was sich tut. Auch im kulturellen Kontext: Filme wie „Masel Tov Cocktail“ oder Shows wie „Freitagnacht Jews“ sind plötzlich Überraschungserfolge. Und sie funktionieren, weil sie nicht nur eine Geschichte erzählen. Nicht nur eine jüdische Geschichte. Sie erzählen von Migration, Diskriminierung, Feminismus – spannende Lebensgeschichten von Menschen, die mehr und die weniger Bezug zur jüdischen Religion haben. Die Geschichten sind vielschichtig, natürlich auch ein bisschen mit Trotz und Wehrhaftigkeit konnotiert. Doch sie sind auch relatable und tragen ein krasses Empowerment in sich, wie die Selbstbehauptung ein krasses Moment hat. Weil jüdische Menschen plötzlich auch mal sagen: „Warum soll ich von meinen Großeltern erzählen, sprich du doch mal über deine Großeltern!“ Die Geschichte des Judentums in Deutschland wird von den Menschen selbst erzählt und zwar so, wie es vielleicht nicht jedem behaglich ist, aber es macht sie vielschichtig.

1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

In diesem Jahr feiern wir 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Dies nehmen wir zum Anlass, um an unser Themenspecial aus dem vergangenen Jahr anzuknüpfen. Damals haben wir u.a. das Begegnungsprojekt „Meet a Jew“ vorgestellt und über jüdische Traditionen und Feste mit einer Bewohnerin des Jüdischen Seniorenheim Hannover gesprochen. Außerdem erklärte uns ein Rabbi, welche Bedeutung das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschana hat.

Nun möchten wir diese Perspektiven durch weitere ergänzen: Laura Cazés, Leiterin der Abteilung für Kommunikation und Digitalisierung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), spricht im Interview über das Festjahr, die Bedeutung von Jugendbildungsaufenthalten für die Identitätsstärkung junger jüdischer Menschen, den Begriff „Zedaka“ (jüdisches Verständnis der Wohltätigkeit) und die Wiedergründung der ZWST vor 70 Jahren. Und im Interview mit Shlomit Tripp vom Jüdischen Museum Berlin erfährst du, wie es zur Gründung des ersten jüdischen Puppentheaters in Deutschland kam und wie dieses seit zehn Jahren bundesweit Brücken zwischen den Kulturen baut.

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Zukunftschancen

Autorin

Katharina Hofmann

Fotograf

Robert Poticha (Titelbild)

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