Im Einklang mit der Natur – und modernen Medien
Medien und Natur erleben geht nicht zusammen? Das Projekt "Wilde Medien" in Nordsachsen beweist das Gegenteil! Hier erleben Familien eine spannende digitale Schnitzeljagd durch den Wald. Mit GPS-Geräten machen Eltern und Kinder nicht nur erstaunliche Entdeckungen, sondern spüren dabei auch ihren fünf Sinnen nach: Was sehen, riechen oder schmecken wir in der Natur – und wie fühlt sich der Wald überhaupt an?
Der achtjährige Noah macht die Augen zu. Unter ihm ein Bett aus Laubblättern. Über ihm wiegen sich die Baumkronen im Wind. „Erde rieche ich in der Luft“, sagt er, „und das Rauschen der Blätter habe ich in den Ohren“. Er hält kurz inne, dann atmet er aus: „Auf dem rechten Ohr höre ich die Blätter lauter als auf dem linken.“

Auch Noahs Mutter Judith Sambale steht mit geschlossenen Augen an der Laubhütte im Wald im nordsächsischen Eilenburg – so wie drei weitere Elternteile mit ihren Kindern, alle in bunten Anoraks und Gummistiefeln. Für Judith riecht es vor allem nach Pilzen und Moos. „Ein richtiger Herbstgeruch, wie aus meiner eigenen Kindheit“, sagt sie.

Die bunte Wandergruppe hat sich an diesem herbstlichen Tag auf ein kleines Abenteuer abseits des Alltags begeben: Sie machen eine „Geocaching“-Tour. Hier sucht man mittels Smartphones oder GPS-Tracker die “Caches”, also Schätze. Für die Familien ein Versuch, endlich einmal wieder gemeinsam Zeit in der Natur zu verbringen und gleichzeitig den bewussten Umgang mit alltäglichen und weniger alltäglichen Medien zu trainieren. Es ist das zweite Mal, dass Isabel Galindo, die Projektleiterin von „Wilde Medien”, zusammen mit der Wildnispädagogin Angela Richter, diese „digitale Schnitzeljagd“ durch den Wald für interessierte Familien aus dem Raum Eilenburg bei Leipzig anbietet.




Noah und sein älterer Bruder machen zwar gern mit den Eltern Ausflüge, doch im Alltag fällt es allen Familienmitgliedern schwer, auch mal ohne technische Geräte aus zu kommen: Bei Mutter oder Vater klingelt das Handy und die beiden Jungs würden am liebsten Stunden damit verbringen, an eben diesem zu spielen. Immer wieder kommt es deshalb zu Diskussionen zwischen Eltern und Kindern. Am Ende fühlen sich alle schlecht. „Man will ja auch nicht ständig ein Spielverderber sein“, sagt Mutter Judith, „und vor allem nicht jeden Tag aufs Neue damit anfangen.“

Genau bei diesen Problemen, die viele Familien kennen, setzen die beiden Pädagoginnen Isabel Galindo und Angela Richter in ihren Workshops an. Denn viele Eltern wünschen sich mehr Informationen, wie sie ihre Kinder im Umgang mit Medien stressfrei unterstützen können. An Elternabenden und bei Exkursionen wie der Geocaching-Tour gibt Isabel Galindo den Teilnehmerinnen und Teilnehmern hilfreiche Tipps – ohne sich dabei in die Erziehung einmischen zu wollen. Einer der zentralen Punkte, so sagt sie, sei ist es, Medien positiv zu nutzen. So wie an diesem Herbsttag. Heute verbringen die Familien nicht nur Zeit miteinander in der Natur, sie meistern auch noch gemeinsam – und mit digitaler Hilfe – eine Schatzsuche, die darüber hinaus auch noch all ihre Sinne weckt: An jeder der fünf Stationen steht ein anderer menschlicher Sinn im Mittelpunkt und eine dazugehörige Aufgabe, die bewältigt werden muss.
Wie riecht der Wald, wie schmeckt er – und wie fühlt er sich an?
Wo ist der nächste „Schatz“ versteckt? Während die einen mit einem GPS-Peiler nach der schnellsten Route die nächste Station suchen, kümmern sich andere um die Dokumentation der Exkursion: Sie schießen Fotos – mit einem Tablet. Am Ende des Tages soll die Gruppe fünf Schatzkisten, sogenannte „Caches“, ausfindig gemacht und die darin enthaltenen Aufgaben gelöst haben. An jeder Station rollen die Kinder, die schon lesen können, ein Papier aus einer kleinen Plastikhülle auseinander und lesen vor. Immer geht es darum, einem anderen Sinn nachzuspüren.



Bei der alten Weide, die sich wie ein müder Drache über den Laubboden beugt, ist der Geschmackssinn dran: Mit verbundenen Augen sitzen Kinder und Erwachsene auf einer Decke im Kreis zusammen. Wildnispädagogin Angela holt Minzblätter, Sonnenblumenkerne und getrocknete Apfelchips aus ihrem Bollerwagen und teilt sie nacheinander aus. Die verschiedenen Lebensmittel werden nun ausgiebig mit der Zunge ertastet, der Geschmacksinn durch die geschlossenen Augen intensiviert und gefordert. So bekommt ein Sonnenblumenkern im nächsten Müsli eine ganz neue Bedeutung! Und der Geschmack der frischen Minze bleibt bei vielen der Schatzsuchenden noch Stunden später auf der Zunge.
In der Natur verstärken sich unsere Sinne, wie unter einem Brennglas.
„Das ist ganz normal“, sagt Angela. „In der Natur verstärken sich unsere Sinne, wie unter einem Brennglas.“ Denn während beim Konsum digitaler Medien zwar die ganze Aufmerksamkeit beansprucht wird, sind es jedoch meist nur zwei Sinne: das Hören und das Sehen. Die Umgebung in einem Film oder einem Handyspiel kann man nicht riechen oder ertasten. Im Wald, in der Natur, ist das natürlich anders. Hier taucht man ein in ein Panorama aus Farben, Gerüchen und fremden Lauten, man kann die würzige Frische der Luft schmecken und die Rinde der Bäume, die von weichem Moos bezogen ist, anfassen und spüren.
Zwischen Nintendo und Natur: Moderne Kindheit kann beides!
Auch Stefanie Knorr, die ihren einjährigen Sohn Jonathan auf dem Arm trägt, hat sich schon oft gewundert, wie schnell ihr Kleinster angefangen hat, mit Siri, der Spracherkennung im Smartphone, zu sprechen. Dabei hat die Familie nicht einmal Computer oder Fernseher im Haus. Die 31-jährigen Eltern sind beide im Grünen und ohne Technik aufgewachsen. Eine solche Kindheit wollen sie auch ihren Kindern ermöglichen, wissen aber, dass sie Smartphone, Tablet und andere Geräte nicht fernhalten können.
„Es ist so schön, Kinder mit einfachen Dingen zu begeistern“, sagt Stefanie. „Die einen sehen eine Blume, die anderen einen Käfer, der nächste sammelt ein paar Stöcke und jeder ist beschäftigt.“ Belustigt schaut sie ihrer Tochter Phoebe zu, die, anfangs vorsichtig und dann immer schneller, auf einem morschen Ast auf und ab wippt. „Wir haben auch eine halbe Badewanne gefunden“, sagt die Siebenjährige triumphierend, „die nehmen wir gleich mit. Die gehört nicht hierher.“

Das „blinde“ Schmecken hat Phoebe gut gefallen, aber auch das Bemalen der Leinenbeutel an der vorletzten Station. Diese widmet sich ganz dem Sehen: Hier holen die beiden Leiterinnen unter staunenden Augen Rote-Beete Saft, Currywasser und Kaffee hervor – um damit die Leinenbeutel zu bemalen. Kurze Zeit später tragen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre bunten Kunstwerke auch schon stolz auf den Rücken.




Am Futterhäuschen angekommen, kurz vor der Streuobstwiese, schließen alle noch einmal die Augen. Nach fast fünf Stunden fällt das keinem mehr schwer. Alle atmen noch einmal tief ein, dann machen sie die Augen auf.
„Jetzt schauen wir mal, was wir heute alles gesammelt haben“, sagt Isabel in die rotbackige Runde. Es ist an der Zeit, dass alle ihre Fundstücke, die sie in den letzten Stunden aufgelesen haben, auf dem Waldboden verteilen. Denn jetzt soll zum Abschluss ein großes Waldmosaik entstehen. Gelbe Blätter, Wurzeln, zerrissene Plastiktüten, Stöcke und kleine Käfer purzeln aus den frisch bemalten Leinensäcken heraus und verwandeln sich nach und nach in ein buntes Kunstwerk, das alle mit Stolz betrachten – und das am Ende selbstverständlich auch digital festgehalten wird.





Angela und Isabel machen auch noch Polaroid Fotos von der Gruppe, die zum Andenken an den Tag im Wald mitgenommen werden dürfen. Dann geht es über Stock und Stein auf den Nachhauseweg. Bei jedem Schritt hüpfen die bemalten Beutel auf den Rücken ein kleines Stückchen in die Höhe. Nur Phoebe dreht sich noch einmal um und läuft zum Bollerwagen zurück. Sie hat ihren Wanderstock an einem Baum vergessen. Und einen solchen Stock findet man schließlich nicht alle Tage.



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