#HeldKannJeder – Wie schon Grundschüler Leben retten lernen
Die ehrenamtlichen Mitglieder der Initiative „Jeder kann ein Held sein“ gehen in ganz Deutschland in Schulen, um vor allem Grundschulkindern Erste-Hilfe-Kenntnisse beizubringen. Wenn schon die Kleinsten lebensrettende Maßnahmen wie Herz-Druckmassage, stabile Seitenlage oder einfach nur den Notruf beherrschen, kann das nicht nur Leben retten, sondern auch die Zivilcourage erhöhen.
An diesem Vormittag ist alles anders in der 3b der Rolf-Zuckowski Schule in Lindenberg. Der Klassenzimmerboden ist mit Sportmatratzen ausgepflastert. Aus dem Waschbecken neben der Tafel quillt eine meterlange Wärmefolie wie zerknülltes Geschenkpapier auf dem Boden. Vor den Schülern stapeln sich allerlei Pflaster und Mullbinden neben den Federmäppchen. Ein paar Kinder haben ihre weißen Medizinhandschuhe über die Hände gezogen, andere haben sie zu kleinen Luftballons aufgeblasen. Heldenmacherin Anika Dietrich hält heute die Kreide in der Hand. Die 23-jährige Medizinstudentin ist eine der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Pépinière Vereins, die an der Schule Erste Hilfe lehren. „Stellt euch vor, euer Tischnachbar hat eine Platzwunde am Kopf,“ sagt Anika. Die Kinder ziehen den Dreiecksverband aus dem Erste-Hilfe Kasten vor ihnen. Gerade haben sie theoretisch gelernt, wie sie das Tuch falten. Jetzt sollen sie es anwenden.



Mathilde in der dritten Reihe dreht sich ihrer Tischnachbarin Joud zu, die in ihrem gelben „Girls United“-Pullover für eine Kopfverletzte ziemlich stark grinsen muss. Mathilde stellt sich hinter Joud und legt das Dreieckstuch auf. Joud hält sich selbst die Kompresse an den Kopf. „Ein bisschen weiter in den Nacken musst du das Tuch schieben“, sagt eine Freundin vom Tisch nebenan, „sonst hält das Tuch nicht am Kopf.“ Mathilde folgt dem Rat und bindet die beiden anderen Enden über Jouds Kopf zusammen.

Mathilde wolle selbst einmal Hausärztin werden, sagt sie, damit die Menschen auf dem Land nicht mehr so weit fahren müssen. Dies ist auch eines der Anliegen von Pépinière: Sie kommen vor allem in ländliche Regionen. Dorthin, wo der Krankenwagen im Notfall länger braucht. Wie hier in Brandenburg.
„Ich will Modedesignerin werden“, sagt Joud und rückt sich den Kopfverband noch einmal zurecht. „Aber auch da kann jederzeit ein Notfall passieren.“ Joud hat selbst einmal erlebt, wie ihre Schwester umkippte. „Da weiß man erst einmal nicht, was man tun soll“, sagt sie. Wie Joud haben schon viele Kinder im familiären Umkreis Notfälle erlebt. Auch bei den Großeltern, die oft auf die Kleinsten aufpassen, kann schnell einmal etwas passieren. Umso wichtiger, dass die Kinder so früh es geht die Notrufnummer parat haben. Im Ernstfall kann das Leben retten.


Zehn Minuten Heldenquiz
In drei Reihen stellt sich die Klasse vor Heldenmacherin Annika Dietrich auf. Die Gruppe, die am schnellsten antwortet, bekommt einen Punkt. Vor der großen Pause soll so noch mal alles Gelernte gefestigt werden. Frau Dietrich hat einen messerscharfen Blick auf die Gruppe. „Wie oft drücken wir bei der Herzdruckmassage?“, fragt sie.
Die Spannung im Raum wird greifbar. Dann schießt es aus der zweiten Reihe: „120 Mal!“
„Richtig!“, sagt Dietrich und ein Stöhnen geht durch die anderen Reihen. „Das hätte ich gewusst!“, rufen ein paar der anderen Kinder. „Eine Person liegt am Boden. Wir haben sie angestupst, aber sie reagiert nicht. Was machen wir?“ Die Antworten schleudern schnell wie Pfeile gegen die Tafel. Diesmal aus allen drei Gruppen. Immer schneller wird das Frage-Antwort-Spiel. Die Füße in den Hausschuhen wiegen auf und ab und manche springen vor Aufregung in die Höhe. Erst die Klingel in die Pause erlöst alle Helden von der Anspannung.

Insgesamt drei Tage sind die Ehrenamtlichen von Pépinière an den Schulen. Die meisten von ihnen sind Medizinstudierende oder selbst in einem medizinischen Bereich tätig. In den ersten beiden Tagen unterrichten sie die Schüler in Theorie und Praxis. Am dritten Tag können alle ihr Wissen bei der spielerischen Heldenprüfung noch einmal unter Beweis stellen.
Da wird nicht nur der Beat der 70er wiederbelebt
Nach der Pause geht es in der sechsten Klasse weiter, wo schon bei geschlossener Tür der Bass der Pop-Musikgruppe Bee Gees aus dem Klassenzimmer entgegenschlägt. Heldenmacher Robert Gintrowicz, leicht erkennbar am roten T-Shirt mit der Notrufnummer auf dem Rücken, kniet mit einer Gruppe Schülerinnen und Schülern auf dem Boden und stemmt sich mit allem Gewicht in den Oberkörper einer Notfallpuppe. Der Sound der 70er-Jahre-Disco gibt den Takt zur Herzdruckmassage vor. Mit der Kraft des ganzen Körpers und ausgestreckten Armen zählen alle mit. Danach üben sie noch das Beatmen am Plastiktorso.



Ein paar Meter weiter auf den Sportmatten wickeln zwei Jungs einen Klassenkameraden vorsichtig in eine Wärmefolie ein, nachdem sie ihn in die stabile Seitenlage gebracht haben. Auf den Tischen dahinter rollt eine Gruppe ein paar Verbände am Tisch ein, mit denen am Vormittag allerlei „Verleztungen“ verbunden wurden. „Nicht nachlassen“, sagt Robert laut. „Entweder beatmen oder richtig durchdrücken mit den Armen.“ Die Beatmungs-Gruppe legt sich noch einmal richtig ins Zeug. Er stoppt die Musik. „Durchatmen!“ Dann geht der Beat wieder los. „Und die letzte Runde!“
Nicht selten bekommen auch die Eltern von ihren Kindern nach so einem Tag wieder eine Auffrischung in Erster Hilfe.
Als Berliner bekommt Robert Gintrowicz auch im Alltag viele Notfälle mit. Die können überall passieren – ob in der Familie, beim Bäcker oder in der U-Bahn. In den Schulungen will er den Kindern die Angst vor solchen Vorfällen nehmen. „Wir brauchen eine Zivilgesellschaft, die hilft und sich nicht wegdreht“, sagt er. Der 27-jährige Arzt arbeitet am Universitätsklinikum an der Charité in Berlin. Immer wieder mal nimmt er sich frei, um an die Schulen zu gehen.
Und das nicht nur in Deutschland. Auch im polnischen Grenzgebiet ist die Initiative aktiv. Dabei entsteht auch gleich ein Austausch zwischen beiden Ländern. Die Heldenmacher von Pépinière hoffen auch, dass sie mit dem dreitägigen Programm zeigen können, dass die Notfallausbildung an Schulen nicht erst ab der siebten Klasse auf dem Lehrplan stehen, sondern schon davor angeboten werden sollte.

Nachdem die Puppen „wiederbelebt“ wurden und alle die stabile Seitenlage geübt haben, versammelt sich die sechste Klasse im Schulhof vor dem „Jeder kann ein Held sein“-Krankenwagen. Robert öffnet den Kofferraum und zieht ein EKG heraus. Daneben reihen sich weiße Schubladen, alle feinsäuberlich beschriftet wie in eine Apotheke. Decken, Sauerstoffmasken, Schutzanzüge – alles hat seinen Platz. „Im Falle eines Herzinfarktes erhöht das EKG die Überlebenschancen“, erklärt Robert. Damit der Kasten anspringt, muss man fest drücken. „Nichts für Zimperliche“, sagt er. „Wer mag ihn einmal starten?“ Ein paar Kinder schauen sich kichernd an, dann trauen sich die ersten vor. Das Gerät springt an.
Kurz danach hüpfen alle wieder in den warmen Klassenraum, in dem schon Beamer und Leinwand warten. Im letzten Programmpunkt des Tages zeigt Robert den Schülerinnen und Schülern einen Kurzfilm, in dem zwei Schwestern nach dem Herzinfarkt ihres Vaters gut reagieren – und sein Leben retten. „Nicht selten bekommen auch die Eltern von ihren Kindern nach so einem Tag wieder eine Auffrischung“, sagt Robert. Schon nach dem gestrigen Tag haben viele von ihnen die stabile Seitenlage an Geschwistern und Eltern zu Hause geübt.

Morgen geht es zur Heldenprüfung. „Meine Klassen gewinnen immer!“, sagt Robert. Die Sechstklässler lachen und klatschen untereinander ein, bevor sie zusammenpacken. Für die meisten ist Robert an diesem Tag zum Held geworden. Die Klingel läutet und trotzdem haben viele noch Fragen an ihn.
Morgen werden sie alle ein „Heldenzertifikat“ in den Händen halten – aber das verraten die Heldenmacher heute natürlich noch nicht.
Info
- Im Jahr 2016 begann die Intiative mit Philipp Humbsch, aus der sich der Verein „Pépinière“ entwickelte
- Der Verein Pépinière folgt dem Vorbild der gleichnamigen Anstalt, die es von 1795 bis 1945 an der Berliner Charitè zur kostenfreien Aus- und Weiterbildung von Ärzten gab
- Auf ehrenamtlicher Basis sind hauptsächlich Studierende aus Berlin und Brandenburg mit dabei, genauso wie andere Freiwillige aus Gesundheitsberufen.
- Seitdem hat das Projekt etwa 6.000 Grundschülerinnen und Grundschülern in Erster Hilfe geschult
- Das Angebot ist kostenlos für die Schulen und finanziert sich aus Spenden, Sponsoren und Preisgeldern.
- Der wichtige Einsatz der Ehrenamtlichen ist großartig! 2016 erhielt der Verein dafür den PRIMUS-PREIS – und wurde 2019 auch für den Deutschen Engagementpreis nominiert. Dieser zeichnet jedes Jahr am 5. Dezember – dem Tag des Ehrenamtes – Personen und Projekte für ihren sozialen Einsatz aus. Engagierten eine Bühne zu geben, ihr Engagment sichtbar zu machen – das empfinden wir als unheimlich wichtig. Daher sind wir seit vielen Jahren als Partner beim Deutschen Engagementpreis dabei.
#HeldKannJeder – Wie schon Grundschüler Leben retten lernen
Diskutieren Sie mit!