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Eine App, die Wärme schenkt

In Deutschland sind rund 37.000 junge Menschen ohne Dach über dem Kopf, darunter etwa geschätzt 7.400 Minderjährige. Auch Psy und Habib machten lange Zeit „Platte“ in Berlin – lebten also auf der Straße. Heute engagieren sie sich als sogenannte MOMOs, um Jugendlichen eine bessere Perspektive zu geben als sie sie hatten. Eine Initiative der Gruppe und des Vereins KARUNA e.V. ist eine App, die Straßenkindern schnelle Hilfe verspricht.

Es ist ein kalter Novembertag. Psy lehnt lässig an einem Geländer am S-Bahnhof Warschauer Straße und isst einen Cheeseburger. Menschen hetzen an ihm vorbei, die Mützen tief ins Gesicht gezogen. Nur ein kleiner Vogel nimmt sich Zeit, Psy – und vor allem seinen Cheesburger – genauer zu betrachten. „Hier, Kleiner“, sagt der 28-Jährige und hält dem Vogel ein Stück Burgerbrötchen hin.

Psy an der Warschauer Straße. Er füttert einen Vogel.

Psy weiß, wie es ist, Hunger zu haben. Elf Jahre lang lebte er mehr oder weniger auf der Straße. „Ich habe eigentlich immer so gependelt, zwischen Wohnung und Obdachlosigkeit“, erzählt er. Seit einem Monat arbeitet der gebürtige Kölner nun beim Verein KARUNA – Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not International e.V.

Ich möchte anderen zeigen, ihr müsst nicht das durchmachen, was ich durchmachen musste.
Psy, ehemaliges Straßenkind und Mitarbeiter bei KARUNA e.V.

Mit 17 Jahren ging er zur Drückerkolonne. „Da wurde man wie Scheiße behandelt, teilweise sogar verprügelt und bedroht“, sagt er. „Also bin ich abgehauen, nach Berlin.“ Die Straßen der Hauptstadt machte er zu seinem Zuhause, Drogen und Alkohol gehören in dieser Zeit zum Alltag. „Neben mir ist mal einer im Schlafsack erfroren“, erzählt Psy. „Ich bin aufgewacht – und er lag da, tot.“

Psy trägt eine vollgekritzelte Jacke.

Als MOMO möchte er nun Jugendlichen, die heute in der gleichen Situation sind, helfen. Der Name des Projektes (vollständig: MOMO – The Voice of Disconnected Youth) ist angelehnt an Michael Endes junge Roman-Heldin Momo, die alleine am Rande einer Großstadt in der Ruine eines alten Amphitheaters lebt und sich gegen die Zeit stehlenden „grauen Herren“ behauptet. Die MOMOs haben allesamt Erfahrungen auf der Straße gemacht und wollen Kindern und Jugendlichen, die kein Obdach haben oder hatten, eine Stimme geben, auf deren Nöte aufmerksam machen, Unterstützung organisieren und dafür sorgen, dass sie von Politik und Gesellschaft wahrgenommen werden.

Mit einem Klick zur wärmenden Mahlzeit

Ein junger Mann mit grauer Mütze schlängelt sich auf einem Longboard durch die Menschen an der Warschauer Straße – und bleibt direkt vor Psy stehen. „Hey Habib“, begrüßt dieser ihn. „Was ist los mit deinem Fuß?“ Habib humpelt leicht. „Ach, hab ich mir verknackst. Halb so wild“, antwortet dieser. Auch er hat jahrelang „Platte gemacht“, wie er erzählt. Heute arbeitet er als MOMO, am Wochenende zudem als Beikoch „um ein bisschen Kleingeld dazuzuverdienen“. Eine eigene Wohnung hat Habib jedoch nicht. „Ich bin ein Couch-Surfer, schlafe mal hier, mal da“, erzählt er.

Auf der Straße geht es ums Überleben. Entweder du gibst alles dafür, oder du gibst auf.
Habib, Sofa-Hopper und Engagierter bei MOMO

So wie er schlägt sich eine stark ansteigende Zahl an entkoppelten Jugendlichen durch. Hier in Berlin gibt es rund 1.500 Straßenkinder. „Die meisten haben ein Handy“, sagt Habib. Für sie ist es eines der wichtigsten Besitztümer, der letzte Anker zur Zivilisation. Und seit diesem Jahr auch ein schneller Weg, Hilfsangebote zu finden. Dank der Web-App MOKLI – eine Initiative von MOMO und KARUNA.

Die MOKLI-App auf dem Handy.
Habib und Psy am S-Bahnhof Warschauer Straße in Berlin.
Die drei laufen zur Anlaufstelle Drugstop.

Wichtig war den Initiatoren, dass die jungen Menschen von MOMO aktiv an der Entwicklung teilhaben. Sie sind schließlich die Experten für das Leben auf der Straße! Auch Habib lieferte Ideen für die Inhalte von MOKLI. Unter sechs Kategorien – Essen, Schlafen, Ärzte, Hygiene, Beratung und Sonstiges – finden sich inzwischen 3.000 Anlaufstellen, dank der Maps-Funktion können sich die Suchenden direkt dorthin navigieren lassen. Über einen siebten Button mit dem Titel „Notfall“ erreichen die Jugendlichen zudem direkt per WhatsApp-Chat die Helfer. „Das Beste ist, dass die Seite auch offline funktioniert, sobald sie einmal geladen wurde”, sagt Nele. Die 19-Jährige absolviert ihren Bundesfreiwilligendienst bei KARUNA e.V. und ist gerade zu Habib und Psy gestoßen.

Info

  • Die Hilfefinder-App MOKLI ist eine Initiative von MOMO und KARUNA e.V. Möglich wurde die Umsetzung durch das Preisgeld der Google Impact Challenge, bei der MOKLI unter die besten 10 Projekte gewählt wurde. Die We-App ist bis heute etwa 44.000 aufgerufen worden, von Hilfesuchenden in ganz Deutschland.
  • MOMO – The Voice of Disconnected Youth ist die politische Selbstvertretung von ehemaligen Straßenkindern, die sich aktiv in Politik und Zivilgesellschaft einmischen, um entkoppelten Jugendlichen eine Stimme zu geben.
  • Kindern und Jugendlichen eine Zukunftsperspektive bieten, dafür setzt sich auch die Deutsche Fernsehlotterie seit ihrer Geburtsstunde ein. Von Herzen möchten wir daher den Initiatoren und Mitentwicklern von MOKLI Danke sagen! Ein tolles und wichtiges Projekt – das in diesem Jahr zu Recht für den Deutschen Engagementpreis nominiert ist.

Mit Freizeitangeboten gegen Orientierungslosigkeit, Kälte und Sucht

Eine der registrierten Anlaufstellen in der Web-App ist der Drugstop. Dort gibt es warmen Kaffee, Mittagessen und verschiedene Freizeitangebote. So können die Jugendlichen Handwerken, Malen – oder im hauseigenen Mode-Atelier schneidern lernen. Aber auch Wäsche waschen und duschen ist im Drugstop möglich. Sogar ein kleines Tonstudio gibt es hier! „Musik spielt eine wichtige Rolle“, weiß Nele, die auch zu Hause in Hamburg Freunde hat, die auf der Straße leben. „Mit Musik kann man sich identifizieren, wenn man keine Familie hat.“ Und die eigenen Gedanken und Gefühle beim Songtexten verarbeiten – sich so Gehör verschaffen.

Habib schaut sich im Mode-Atelier die Stoffe an.
Info-Tafel in der Anlafustelle Drugstop mit Angeboten.
Habib singt im Tonstudio einen Song ein.

„Ich möchte auch auf Sportvereine zugehen“, erzählt Habib. „Sie fragen, ob sie nicht auch obdachlose Jugendliche aufnehmen könnten. Sport ist ein gutes Mittel gegen die Sucht.“ Drei Mal hätten die Drogen ihn fast das Leben gekostet. Um das Leben auf der Straße zu ertragen, „säuft man sich eben ins Koma”. Doch der 25-Jährige hatte Glück. Heute ist er clean und brennt für das, was er tut, sprudelt nur so vor Ideen. „Ich möchte was reißen bei MOMO“, sagt Habib. Den notwendigen Biss und Enthusiasmus dafür hat er.

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