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Ein letzter Blick auf Hamburg

Noch einmal die eigene Stadt erkunden – das ist der Traum von Vakil-Mai Seeger. Dabei läuft ihr die Zeit davon: Eine Krankheit raubt ihr immer mehr an Sehkraft. Doch die 74-Jährige Rentnerin kämpft für ihren Traum, und das nicht alleine: Im Nachbarschaftsnetzwerk altonavi hat sie Unterstützung gefunden – und Anna.

Krrrrrr, krrrrrr, krrrrr… Die kleine Kugel am Ende des Stocks erzeugt ein monotones Rauschen auf dem rauen Asphalt. Rhythmisch schwingt sie über den Boden, nach links, nach rechts und wieder zurück. So tastet sich die 74-jährige Vakil-Mai Seeger ihren Weg durch die Nachbarschaft. Doch dann: Quietschende Reifen – ein Auto rast um die Ecke! – und die Kugel bleibt abrupt stehen. Das beruhigende Rauschen ist verstummt. Das war knapp!

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„Zweimal wäre ich schon fast erwischt worden“, erzählt die Rentnerin. „Manche fahren hier viel zu schnell und sehr unaufmerksam…“ Sie schüttelt den Kopf, sucht sich eine freie Bank und setzt sich erstmal. Auf dem Goetheplatz in Hamburg Altona ist sie öfter und beobachtet das Treiben – mit den Ohren. Denn Vakil-Mai sieht kaum noch etwas.

Ich wünsche mir einen Austausch mit jemandem, der nicht nur aus Mitleid mit mir kommt. Sondern, weil derjenige Architektur genauso liebt wie ich und selbst Ideen einbringt, was man sich anschauen könnte.
Vakil-Mai Seeger, sucht über altonavi ein "Miteinander auf Augenhöhe"

Vor 18 Jahren fing es an. Da entdeckte sie weiße Fussel auf ihrem schwarzen Mantel, die gar nicht da waren. Die Diagnose: Makuladegeneration, eine Erkrankung, die aufgrund einer Schädigung der Netzhaut zu einem fortschreitenden Verlust des Sehvermögens im Zentrum des Gesichtsfeldes führt. „Inzwischen ist es so, dass ich nur noch einen starken Nebel vor den Augen habe“, erklärt Vakil-Mai. „Aber an den Seiten ist Gott sei Dank etwas Netzhaut übrig. Da habe ich zum Glück noch ein bisschen Orientierung, wenn ich an Häuserfronten entlanggehe.“

altonavi: Starke Nachbarschaft durch starkes Engagement

Die Rentnerin wartet auf Anna Wegelin, eine junge Nachbarin, die sie über die Einrichtung altonavi kennengelernt hat. Gemeinsam wollen die beiden heute auf den Markt gehen.

Anna und Vakil-Mai laufen mit fröhlichen Gesichtern vor der Freiwilligenagentur altonavi vorbei.

altonavi liegt in direkter Nachbarschaft der beiden Frauen und ist Freiwilligenagentur und Infozentrum in einem. „Es ist ein Projekt von drei Trägern: der alsterdorf assistenz west, der AWO und dem Stadtteilkulturzentrum HausDrei“, erklärt Koordinatorin Margit Langenbacher. Anwohnerinnen und Anwohner sind hier willkommen, können sich informieren und beraten lassen – auch in Problemlagen. „Wir fördern außerdem das Engagement im Stadtteil, um Nachbarschaft zu stärken“, so Langenbacher. Oft kommen Menschen vorbei, die noch gar nicht so genau wissen, was sie tun möchten – nur, dass sie etwas tun möchten. Bei altonavi finden sie die richtige Anlaufstelle und Beratung. Als Vakil-Mai anklopfte, wusste sie jedoch genau, was sie sucht.

Über altonavi

  • altonavi informiert über Angebote im Stadtteil Hamburg Altona (z.B. Bildung, Kunst und Kultur, Wohnen, Gesundheit, Pflege und Assistenz) und fördert Engagement und Nachbarschaftshilfe. Anwohnerinnen und Anwohner aus allen Altersgruppen nehmen die Angebote wahr – mit knapp 30 Prozent stellen die 60- bis 69-Jährigen die größte Gruppe dar.
  • Eine feste Gemeinschaft unter Nachbarn liegt der Deutschen Fernsehlotterie sehr am Herzen. Deshalb fördern wir seit Jahren viele Projekte und Initiativen, die das Miteinander im Viertel stärken – altonavi unterstützten wir mit 66.974 Euro.

„Zwei Jahre lang hatten wir hier eine Gruppe, die sich ‚Spaziergängerinnen von Altona‘ nannte. So habe ich mein Viertel richtig kennengelernt“, erzählt Vakil-Mai. „Leider hat sich die Gruppe aufgelöst, und so bin ich bei altonavi gelandet.“  Ihr großer Wunsch: Noch einmal die Architektur Hamburgs mit allen Sinnen zu erleben – solange sie es noch kann. Und das in Begleitung einer Person, die sich für dieses Thema ebenfalls so sehr begeistert wie sie selbst. Dies hat nicht auf Anhieb geklappt. „Ich wünsche mir einen Austausch mit jemandem, der nicht nur aus Mitleid mit mir kommt. Sondern, weil derjenige Architektur genauso liebt wie ich und selbst Ideen einbringt, was man sich anschauen könnte. Ein Miteinander auf Augenhöhe.“

Mit Anna ist nun aber schon einmal der erste Schritt getan. Sie kommt mit dem Fahrrad angefahren und umarmt Vakil-Mai zur Begrüßung. Die junge Fotografin ist versiert am Computer und versorgt ihre Nachbarin mit allen Informationen zu Hamburger Orten und Bauwerken, die sie sich wünscht. „Das ist so toll“, schwärmt die 74-Jährige. „Ich schreibe mir oft Stichwörter auf, wenn ich im Radio oder Fernsehen Berichte über Hamburg höre. Anna recherchiert dann ganz schnell und sucht die Geschichte zu den Gebäuden heraus. Ich bin begeistert und überglücklich, auf diese Weise schon einmal an mein Interessengebiet heranzukommen.“

Mit ihrer Begeisterung hat sie Anna bereits angesteckt. „Ich erfahre Dinge über Hamburg, über Gebäude, an denen ich täglich vorbeigehe, die ich nicht wusste“, sagt sie. Auch, wenn sie vielleicht nicht regelmäßig mit Vakil-Mai zur Architekturkunde losziehen wird – einmal haben die beiden Frauen es sich fest vorgenommen.

Wenn die Fußgängerzone zum Hindernisparcours wird

Zu Fuß machen sie sich los in Richtung Marktplatz. Ein Weg mit vielen Hindernissen: So bringt ein  angeschlossenes Fahrrad, das über den Fußweg ragt, die 74-Jährige aus dem Tritt. Und eine junge Frau, die angestrengt auf ihr Handy schaut, läuft fast in sie hinein. „Manchmal habe ich das Gefühl, alle Menschen sind blind“, seufzt Vakil-Mai. „Sie sind in Gedanken immer woanders.“

Vakil-Mai läuft an Fahrrädern vorbei, die auf den Fußweg ragen.
Anna schiebt ihr Fahrrad, Vakil-Mai läuft mit ihrem Blindenstock neben ihr.

Vor einigen Jahren wurde die Fußgängerzone renoviert. Und für Vakil-Mai zum Hindernisparcours: „Die Bänke standen kreuz und quer verteilt. Das sah vielleicht schön aus, ist aber für eine blinde Person extrem schwierig. Es gab auch keine Orientierungshilfe – außer die Regenrinne. Beim Wetter hier im Norden kann man sich ja gut vorstellen, wie sich die Füße danach anfühlten…“, erzählt die Hamburgerin. „Wir mussten dafür kämpfen, dass dies geändert wird.“

Vakil-Mai auf dem Weg durch die Fußgängerzone, ein Poller aus Stein ist in ihrem Weg.

Die Rentnerin ist auch politisch aktiv, engagiert sich in Arbeitsgemeinschaften, die mit den Behörden zusammenarbeiten. Ihr Ziel: „Ich möchte Aufmerksamkeit und Achtsamkeit schaffen, dass viele unterschiedliche Menschen auf den Straßen unterwegs sind.“ Manchmal frustriert sie ihr unermüdlicher Kampf. „Es gibt so viele Gesetze zur Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, trotzdem gibt es eine Ausnahme nach der anderen“, sagt sie. „Das ärgert mich.“

In ihrer Straße hat Vakil-Mai daher selbst die Initiative ergriffen, mit Einzelhändlern und Cafébesitzern gesprochen. Seitdem stehen die Werbetafeln nicht mehr wahllos auf dem Bürgersteig – nicht nur für sehbehinderte Menschen ein Hindernis, auch für Rollstuhl- und Rollatorfahrer –, sondern eng an den Hauswänden.

Offenheit und Empathie statt Berührungsängste

„Ich finde diesen Austausch wahnsinnig spannend“, sagt Anna, während sie ihr Fahrrad neben sich her schiebt. Als die 33-Jährige vor zweieinhalb Jahren aus St. Petersburg zurück nach Hamburg zog, wollte sie etwas machen, das auch einen Bezug zu ihrer Umgebung hat. „Ich dachte, was ich geben kann, ist Zeit“, erinnert sie sich. Auf ihrem Nachhauseweg lief sie immer wieder an altonavi vorbei – bis sie irgendwann einfach hineinging. „Für mich ist es nicht das Gefühl, zwingend meine Hilfe anzubieten, sondern ein Austausch mit einer Nachbarin – der auch noch sehr, sehr spannend ist. Ich glaube, ich habe fast mehr von Vakil-Mai gelernt, als sie von mir…“ Sie schaut ihre Nachbarin an, und auch wenn diese es nicht sehen kann, kann sie es spüren. Vakil-Mai lacht: „Es ist eine Win-Win-Situation.“

Die beiden sind auf dem Markt angekommen. Sie testen frisches Bio-Brot, kaufen Aprikosen und Beeren. Dann setzen sie sich auf einen kurzen „Schnack“ noch einmal hin.

Anna und Vakil-Mai sind auf dem Markt und schauen sich die Stände an.

Anna erzählt von ihrer ersten Begegnung mit einer blinden Person: „Der Mann fragte mich, wo der Bus abfährt“, erinnert sie sich. „Er hatte vorher schon andere Menschen gefragt, die ihm aber nicht weiterhelfen konnten. Und ich habe schnell gemerkt: Erklären kann ich es auch nicht. Wie beschreibt man einer blinden Person den Weg? Ich habe ihn dann also selbst zum Bus gebracht.“

„Viele Menschen haben Berührungsängste“, sagt Vakil-Mai nickend. „Sie wissen nicht, wie sie auf Menschen mit Behinderungen zugehen sollen – dabei ist es doch eigentlich total einfach, wie Annas Geschichte ja auch zeigt.“ Und nicht selten wird Offenheit belohnt: Mit einem herzlichen Dank oder einer spannenden Unterhaltung. Vakil-Mai jedenfalls hat viel zu erzählen: Mit 40 Jahren ging sie ins Ausland, betreute unter anderem in Nepal am Fuße des Himalayas geflüchtete Kinder. Aber auch Lateinamerika kennt die Rentnerin von ihren Reisen gut. „Welches ist dein Lieblingsziel?“, fragt Anna. Vakil-Mai muss nicht lange überlegen: Skandinavien. Da ist sie einmal morgens aus ihrem kleinen Zelt gekrochen – und stand plötzlich in einer riesigen Herde Rentiere!

Danach lebte sie einige Zeit auf dem Land, arbeitete auf dem Bauernhof mit. Ihre Krankheit zwang sie zurück in die Stadt. Seit 18 Jahren ist Vakil-Mai nun wieder in Hamburg. „Ich bin eine Weltenbummlerin“, sagt sie und lächelt wehmütig. „Es macht mir zu schaffen, dass das nicht mehr geht…“ Doch Aufgeben ist für die Hamburgerin keine Option. Wenn es mit der großen Welt nicht mehr klappt, dann will sie nun ihre kleine Welt – ihre Heimatstadt – noch einmal ganz neu entdecken. Einen letzten Blick auf Hamburgs schönste Ecken werfen. „Jetzt muss ich nur noch jemanden finden, der diese Abenteuer mit mir erlebt“, sagt sie und lächelt – diesmal voller Vorfreude.

Vakil-Mai und Anna sind von hinten zu sehen. Anna schiebt ihr Fahrrad, links neben ihr läuft Vakil-Mai. Die beiden unterhalten sich.

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